Erstellt am: 14. 4. 2011 - 13:50 Uhr
Im Zwischengrenzland
Zerfräst und zerfranst, uneinheitlich, widersprüchlich und ziemlich sexy präsentiert sich das europäische Kino beim achten Crossing Europe Filmfestival. Der europäische Kulturraum mit seinen imaginierten und tatsächlichen Communities produziert im Rahmen der sechs bespielten Tage einen Abrieb aus traumhaften Wirklichkeiten. Festivaldirektorin Christine Dollhofer ist sich bewusst, dass es bei einem sich an geografischen Grenzziehungen entlang hangelnden Festival wie dem ihren keinen homogenen Überbau geben kann oder geben darf, dass das Europäische im besten Fall eben mehrere Sensibilitäten meint, die sich aus regionalen Gegebenheiten speisen.
Zwei Festivaltage liegen bereits hinter den BesucherInnen: während sich der geerdete, alltagspoetische Naturalismus, der die europäische Produktionslandschaft von Belgien bis Rumänien über die letzten Jahre hinweg bestimmt hat, langsam, aber sicher verabschiedet, treten an seine Stelle Erzählentwürfe, die sich vom Konkreten weg bewegen und das abstrakte Feld des Irrationalen, Unbestimmten und Unerklärten betreten. In gewisser Weise erlaubt sich das europäische Kino nach Jahren der faktisch-beiläufigen Bestandsaufnahmen wieder Utopien oder jedenfalls die Sehnsucht danach.
Zufallsbewegungen
Eine solche Utopie, wenn sie auch streckenweise wie eine Psychopathologie wirkt, lebt die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller im jüngsten Film der niederländischen Regisseurin Nanouk Leopold, der beim diesjährigen Crossing Europe auch das Tribute gewidmet ist. Hüller, die blasse Theaterfrau, die mit ihrem überirdischen Part in Hans-Christian Schmids „Requiem“ die meisten ihrer bundesdeutschen Film-Kolleginnen an die Wand gespielt hat, kontrolliert und belebt auch in Brownian Movement (der Titel meint die Brownsche Bewegung, mit der Wärmebewegungen von Teilchen in Flüssigkeiten oder Gasen bezeichnet wird) den gesamten Bildraum.
Als Ärztin Charlotte führt sie ein unauffälliges Mittelschichtleben mit ihrem indischen Mann und ihrem gemeinsamen Kind. Immer wieder treibt es die Flaneuse allerdings raus auf die Straßen: in einem angemieteten und zweckmäßig eingerichteten Raum verkehrt sie mit verschiedenen Männern. Alle fallen sie aus der Norm, haben sie menschliche Makel: sie sind fettleibig oder extrem behaart, alt oder haben Hautkrankheiten. Hüller lässt sich von ihnen verzehren, berührt sie nicht selten gedankenverloren an ihren deformierten Stellen, ohne allerdings, dass ihre Faszination damit eine Fetischisierung ausdrücken müsste. Vielmehr wirkt diese Frau wie eine Entdeckerin.
Crossing Europe
Leopold erzählt „Brownian Movement“ vermittels einer dreiteiligen Struktur: es geht im Folgenden um Charlottes Reuelosigkeit. Sie will nicht verletzen, handelt nicht mit böser Absicht, sondern folgt ihren Instinkten und Trieben. Als ihr Doppelleben nach einer versuchten Vergewaltigung auffliegt, wird ihr die Ärztinnenlizenz entzogen; gemeinsam mit ihrem Mann zieht sie nach Indien, wo sie versuchen ein neues Leben aufzubauen.
„Brownian Movement“ ist mit seinen streng kadrierten Einstellungen, der absoluten Bildraumkontrolle von Nanouk Leopold und der punktuell anschwellenden Musik ein sehr kunstfertiger Film geworden, der sich allerdings irgendwann in seinem eigenen Korsett verliert. Zurück bleibt das Gesicht der Hüller, in das man alles und nichts rein lesen kann, das die Wesenheit dieser Ausnahmeschauspielerin, im Besonderen in dieser mutigen, selbstlosen Rolle perfekt zum Ausdruck bringt.
Ein Traum ein Beigebraun
Die Utopie ist auch bestimmend im tschechischen Wettbewerbsbeitrag Eighty Letters, dem Regiedebüt von Vàclav Kadrnka. Man begegnet einem Jungen in Boxershorts, der aufsteht, sich kurz im Spiegel ansieht und dann läuft. Wie eine Fototapete schiebt das Graugrau der Straßen an ihm vorbei, bis er an einem Bus ankommt, in dem seine zierliche Mutter hockt. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Reise durch Ämter, Büros und Flure, auf eine Reise durch den realsozialistischen Apparat und seine ungnädigen Architekturen.
Crossing Europe
Es ist ein Tag im Jahr 1987 und Vacek und seine Mutter wollen ausreisen aus der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, wollen zum Vater nach Großbrittanien. Eine Schnürmappe haben sie immer dabei, angefüllt mit Bescheiden, Bestätigungen, Wertmarken. Irgendwo darin liegt auch die Hoffnung auf Freiheit, die Hoffnung darauf, dieser beigebraunen Welt zu entkommen. Regisseur Kadrnka serviert mit „Eighty Letters“ einen klassischen Kleinfilm, ein fast beiläufig anmutendes, protokollarisch ausgerichtetes Drama, in dem es letztendlich weniger um die Bewegung als um den Stillstand, weniger um die Flucht als um die Liebe und das Vertrauen zwischen Mutter und Sohn geht.
Zwischenstromwelt
Von Zwischenwelten und Übergängen, die sich als eigentliche Heimaten entpuppen, erzählt auch der bisherige Höhepunkt des diesjährigen Festivals. Ein Film, der irgendwie aus dem Nichts zu kommen scheint, der einfach da ist und einen Einschlag verursacht, der noch lange nachhallen wird. Black Field des griechischen Regisseurs Vardis Marinakis eröffnet mit einem atemberaubenden Landschaftspanorama: im Hintergrund türmen sich die Felsberge auf, formen einen natürlichen Kelch aus feuchten Wiesen und einem dunklen See, an dessen Ufer ein Janitschar entlangreitet, merklich geschwächt, bis er an den ewigen Mauern eines Nonnenklosters gemeinsam mit seinem Ross kollabiert.
Crossing Europe
Die Janitscharen waren die Elitetruppe im Osmanischen Reich, Kämpfer mit einem eindeutigen Ehrenkodex: unsere Hauptfigur ist ein Deserteur, ein wilder bärtiger Mann, der von den Nonnen aufgelesen und fürs Erste versorgt wird. Eigentlich aber will man ihn loswerden: die Gefahr, dass er hier entdeckt wird und dass sich die Osmanische Armee auch an den Nonnen rächen wird, ist einfach zu groß. Vermittels andersweltlichen Tondesign und somnambulen, immer wieder in die Nachtschwärze abstürzenden Bildern entwickelt Marinakis seine Geschichte, die mit nur wenigen Worten auskommt. Man sieht, wie sich die Schwestern langsam annähern an den jungen Wilden, eine betrügt ihr Gelübde und reitet auf ihm: vor allem aber ist es Schwester Anthi, die sich fasziniert zeigt vom „Teufel“, der in der kleinen Kammer gesundet. Irgendwann verhilft sie ihm schließlich zur Flucht, auch weil sie sich nach ihm verzehrt: gemeinsam stürmen sie durch den andersweltlichen Wald, bevor ein Geheimnis aufbricht und den beiden ein neues Bekenntnis abverlangt.
Crossing Europe
Eines nämlich, das sich absetzt von allen Zuschreibungen und Zuordnungen, das sich im Sein genügt. Zwischen diesen Bäumen bäumt sich dann eine atemberaubende Zwischenwelt auf: selbstgenügsam, leidenschaftlich, schmerzhaft und roh. Es ist bemerkenswert, wie sich Marinakis diesen Raum erarbeitet, wie er von einer konkreten, historischen Ausgangssituation in fast märchenhaftes Terrain vordringt, wie diese beiden Grenzgänger sich ihre Freiheit erarbeiten. „Black Field“, produziert bereist im Jahr 2009, ist eine ganz große Entdeckung und nur ein weiterer Beweis für die Qualität dieses Festivals.
Zwar leidet das Crossing Europe Filmfestival beizeiten immer noch an den favorisierten gesellschaftsrelevanten Thematiken: aber hier in Linz lassen sich tatsächlich noch Preziosen entdecken, die im Raubtierfilmfestivalismus übersehen worden sind, die eben aus dem Nichts kommen und in nur wenigen Stunden beweisen, wie reich, widersprüchlich, wahnwitzig, originell und visionär das europäische Kino sein kann und muss.