Erstellt am: 5. 4. 2011 - 22:13 Uhr
Journal 2011. Eintrag 69.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und zuletzt 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag als Anregungs- und Denkfutter, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich das ganze Jahr über Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit fünf Möglichkeiten für Geschichten, Analysen und Betrachtungen, die allesamt in einer einzigen Zeitungsausgabe angestoßen wurden.
Gestern war anlässlich der – wie ich heute erfahren habe, mittlerweile auch von staatlicher Stelle geführten – Diskussion zum Thema Investigations/Einschleich-Journalismus hier davon die Rede: vom Zeitmangel, der den modernen Journalismus prägt, und damit die lang vorbereitete, die intensive Geschichte verhindert.
Derselbe Zeitmangel, behaupte ich, ist auch schuld an der Uniformität der Ansätze der Geschichten, die wir über Agenturen und Copy-Paste-Medien vorgeführt bekommen, an der faden Verwendung der immergleichen Tools, am Abspulen des immer selben inneren Programms dessen, was die diversen Scheren im Kopf, die Rücksichtln auf die Interessen von Verlegern und Besitzern, das blinde Sich-Ergeben in Quoten und die (scheinbaren) Interessen des Publikums halt noch zulassen. Nicht viel.
Wenn ich, wie dieser Tage (arbeitsrechtlich erlaubt) über das Gegenteil von Zeitmangel verfüge, dann fällt mir das besonders auf. Denn dann reicht oft eine kurze Zeit mit einem Packen internationaler Tageszeitungen im Cafe mit dem Namen der kleinsten Weltstadt Europas, um mich auf gleich ein paar Dutzend Themen und Denkansätze neugierig zu machen.
Ich will das noch stärker eindampfen: auf ein einziges Exemplar, auf die Süddeutsche Zeitung von heute, die mich gleich sechsfach auf Spuren gesetzt hat, die nähere und vor allem sinnvolle Beschäftigung garantieren würde. Alles Ansätze, die sich nicht in der Tool-Box der Copy-Paste-Maschinerie befindet.
Beispiel 1: Die FDP
Die Krise der deutschen Freidemokraten, der Liberalen, die seit Jahren einen strikt wirtschaftsliberaler Kurs fahren und damit (Zitat) "Handwerksmeister, Apotheker und Hoteliers" vertritt, nimmt aktuell absurde Ausmaße an. Neben Flügelkämpfen, Eitelkeiten und persönlichen Befindlichkeiten tritt dabei die ideologische Ausrichtung völlig in den Hintergrund. Dabei ist es ausschließlich die Grundhaltung der deutschen Liberalen, die dafür sorgt, dass sie aktuell knapp unter den 5% vegetiert, die ihr Überlegen sichern würden.
Der SZ-Kommentar von Kurt Kister ist saftig und fordert die Rückkehr zur Kompetenz ein, die aktuell mit der Hinwendung auf medial schillernde Figuren a la Guttenberg (z.B. den talentierten Herrn Rösler oder den Heute-Show-Fan Lindner) in den Hintergrund gedrängt wird. Diese Generation an slicken Media-Profis ist mittlerweile so konditioniert, dass sie erbarmunslos das sagt, was die Menschen hören wollen, egal ob es sich umsetzen oder mit der eigentlichen Ideologie vereinbaren lässt.
Damit erinnern die deutschen Liberalen deutlich an das österreichische 3. Lager, die diversen freiheitlichen Nationalen. Sogar in der Hinsicht, in die die Warnung des zum Abschuss freigegebenen Freitrinkers Brüderle zielt: dass Deutschland nämlich keine fünfte sozialdemokratische Partei braucht.
Das mag stimmen - mit diesem Schmäh, dem der Wirtschaftliberalen mit dem menschlichen Antlitz, hat die FDP aber ihre Höchstmarke bei den letzten Wahlen eingefahren. In einem Wahlkampf, der damals, vor zwei Jahren, alle fünf seriösen Bewerber - egal ob direkt oder implizit - den Wohlfahrtsstaat sozialdemokratischer Prägung anpreisen ließ. Vielleicht also doch die einzige Chance für die FDP.
Und eine Bestätigung dessen, was mir damals schon aufgefallen ist.
Beispiel 2: Charlie Sheen, der Torpedo der Wahrheit
Charlie Sheen ist aktuell wohl der irrste Mann des Planeten. Nach seinem Rausschmiss bei "Two and a half men", seinen Drogen-Exzessen und dem öffentlichen Scheitern des Entzugs tritt er aktuell eine Flucht nach Vorne an, die ihresgleichen sucht. Eine unberechenbare wandelnde Zeitbombe ohne jegliche Live-Erfahrung geht auf Tour. Mit einem Programm das aus Nichts besteht: Er halt, Charlie Sheen, der irres Zeug redet.
Der SZ-Korrespondent hat sich die zweite Show in Chicago angesehen. Die erste in Detroit endete im Desaster: Nachdem Sheen die Stadt als Crack-Bitch beschimpft hatte und Youtube-Videos zeigte, wurde er von der Bühne gebuht.
Chicago hingegen, erzählt Jörg Häntzschel, liebt ihn. Die Skandal-Trächigtkeit, die Kindergarten-Provokationen lassen ihn funktionieren wie Sarah Palin: Jeder neue Feind sichert ihm drei neue Fans.
„The Violent Tordepo of Truth“ heißt die Tour, bei der ein schweißhändiger Interviewer Sheen stichwortartig befragt und der dann extemporiert bis die Groupies beiderlei Geschlechts auszucken. Genau das ist auch der Masterplan dieser Tour: einen fluchenden, irren, sexistischen Borderliner vorführen, der sowohl Verachtung als auch Identifizierung evoziert.
Ein Konzept, das den Star-Typus anno 2011 perfekt auf den Punkt bringt. Da sind selbst Britney oder Paris last years model.
Beispiel 3: Twitter rettet Japan
In den japanische Präfekturen in Katastrophen-Nähe, in denen die Kommunikationswege zusammengebrochen sind (einfach weil das Erdbeben und der Tsunami die Server beerdigt haben) funktioniert die Nothilfe nur noch über Social Networks. Berichtet Christoph Neidhart, vielleicht aus Tokyo, vielleicht aber auch nur via Netz-Beobachtung.
Über Facebook, Twitter und Mixi organsierten sich Hilfesuchende in den Krisen-Regionen mit Hilfsbereiten aus den großen Städten, tauschten Informationen und Adressen aus, legten Treffpunkte fest, erstellten Listen von Benötigtem, organisierte Schulmaterialien etc. Eine Handvoll Geeks erstellten eigene Online-Börsen für Nothilfe.
Zwei die sich über Twitter gefunden haben, konnten einen Live-Übersetzungsdienst für TV-News für Taubstumme organisieren. Ein Twitter-User sammelte Erlebnisberichte, die innerhalb weniger Tage zu einem E-Book zusammengestellt wurde, das später auch als Print-Produkt auf den Markt kommt – Erlös ans japanische Rote Kreuz. Dass die Social Networks die in den Mainstream-Medien verschwiegenen Anti-AKW-Proteste thematisieren – eh klar.
Alles Aufgaben, die eigentlich der Staat bzw die Medien erfüllen sollten – aber entweder nicht machen können oder nicht machen wollen. Letztlich ist das die Soft-Version der arabischen Revolutionen; die begannen auch mit dem Alternativ-Markt von Informationen über Social Media. Wenn sich diese selbstorganisierte Bewegung in Japan über die Katastrophe hinaus hält, kann sie die herkömmlichen politischen Verhältnisse durchaus destabilisieren.
Beispiel 4: Bild ist nur eine Verkaufs-Maschine
Wenn der große Investigativ- und Medien-Journalist Hans Leyendecker eine aktuelle Studie zur Bedeutung der Bild-Zeitung analysiert, dann ist der Benefit natürlich doppelt groß.
Die Studie "Drucksache Bild. Eine Marke und ihre Mägde" erschien in der Otto Brenner Stiftung der IG Metall und untersuchte vor allem die Bild-Darstellung der Griechenland und Euro-Krise 2010, ging aber dabei natürlich auch einen Schritt weiter ins Prinzipielle.
Die These: Bild ist gar keine Zeitung im eigentlichen Sinn, sondern die Inszenierung eines Mediums, um ordentlich Geschäfte machen zu können. Allein die aktuelle Bild-Produkt-Palette enthält einige hundert Artikel, vom Computer bis zur Wandfarbe, man wäre damit einer der größten Einzelhändler Deutschlands.
Das ist ein durchaus universelles Modell – die erst gestern hier erwähnten Fellner-Medien folgen diesem Prinzip seit jeher. Die sind, ebenso wie die Bild-Familie in erster Linie ein Geschäftsmodell, aber definitiv kein Medium im klassischen Sinn.
Leyendecker findet viele Haare in der Studien-Suppe, unterstreicht aber die These, dass die Anti-Griechenland-Kampagne weniger politisch als viel mehr wirgefühlsmäßig funktioniert habe. Dass Bild politische Kampagnen auch in den Sand setzen kann, hat ja der Fall Guttenberg deutlich belegt.
Dass Leyendecker die Rolle von Bild als Themensetzer, auch als politischer im selben Maße runterspielt, wie die Metaller-Studie sie hochhält, ist sehr interessant. Denn so sehr sich Diekmann mit dem Hochschreiben seines politischen Zwillings Guttenberg verkalkuliert hat, so bedeutend ist die Campaigning-Kraft von Bild und BamS insgesamt allemal noch.
Beispiel 5: der Jordanier der die 60er retten wird
Normalerweise ist der "Scheich", der bei einem hiesigen Fußball-Verein einsteigt, das sichere Zeichen für Funktionäre, die sich zum Deppen machen und reingelegt werden. Der Einstieg von Hasan Abdullah Ismaik aus Jordanien beim finanziell schwerstgebeutelten Verein 1860 München jedoch steht eher fürs Gegenteil. Nicht nur weil Imsaik weder Scheich noch milliardenschwer ist, sondern ein global bekannter Sanierer und Finanzierer, der genau zum Zweitliga-Verein passt, sondern auch weil sich seine von Andreas Burkert und Klaus Ott gesammelten An- und Aussagen schon jetzt besser anhören als der Schwachsinn, den die letzten zehn Verantwortungsträger des Münchner Traditionsclubs so von sich gegeben haben.
Dass hier Figuren in Vorstand und Aufsichtsrat saßen, die auch als Abnicker am Hypo-Debakel mitschuld waren – wen wunderts. Ismaik spricht alles ganz offen an: Er sieht die Stadion-Debatte der 60er ebenso nüchtern wie die Budget-Bedarfslage, will die gute Jugendarbeit fortführen und sieht im Engagement im deutschen Fußball einen Schritt dazu, einen Fuß in einen neuen Markt zu bekommen.
Wenn ich mir da vergleichsweise aktuelle Zustände wie in Linz, in Graz oder Klagenfurt anschaue, dann würde ich mir so einen jordanischen Nicht-Scheich auch für die Hälfte der österreichischen Liga wünschen.
5 Beispiele, 5 Ansätze
Aus jedem dieser Ansätze lässt sich weiterführendes machen: der seltsame Linksruck Deutschlands, der Ansatz für ein neues japanisches Selbstverständnis jenseits der klassischen Wege, das Medium als Verkaufsmodell, der neue Proto-Typus des Saturday Night Live-Promistars. Und dafür auf diese Ideen gebracht zu werden, war nur eine halbe Stunde im Cafe nötig. Dieses Wurst-Ende des "Zeitmangels" lässt sich also recht einfach beheben - für das andere, das Freischaufeln des Redakteurs vom Copy-Paste-Alltag der Medien-Produktion, ist allerdings noch ein wenig mehr nötig.