Erstellt am: 10. 4. 2011 - 07:04 Uhr
Doktor Floerickes bewundernder Blick
Nach Dietmar Daths "Die Abschaffung der Arten" dachte ich nicht, dass mich ein weiteres Buch mit tierischen Hauptfiguren so schnell begeistern könnte. Doch Dr. Kurt Floericke bzw. dem wunderbaren deutschen Grosskonzern Verlag ist das geglückt. 125 Seiten erzählt Floericke enthusiastisch aus dem Leben der "Nagetiere". Dabei ist es laut Herausgeber Jan Neersö einer befreundeten Flohmarktbesucherin zu verdanken, dass die spezifischen Erkenntnisse des 1869 geborenen und 1934 verstorbenen Naturschriftstellers Floericke nun diese kleine, feine Ausgabe erleben.
"Nagetiere. Bei uns und draußen" von Dr. Kurt Floericke, herausgegeben und kritisch kommentiert von Jan Neersö, ist 2011 im Grosskonzern Verlag erschienen.
"Wut und blinder Jähzorn sind die ihn jederzeit beherrschenden Leidenschaften, Zank und Streit sein Lebenselement, Mißgunst und Neid seine tiefgewurzelten Eigenschaften. Er ist ein Geizhals sondergleichen, und nicht umsonst hat man ihn zum Urbild des Hamsterns genommen." Die Spannung steigt mit jedem Kurzporträt. Und allen Ernstes: Floericke skizziert mit den vorhin zitierten Sätzen einen Hamster. "Nagetiere" ist kein Roman und kein Lexikon wie Brehms Tierleben, sondern eine vergnügliche populärwissenschaftliche Schrift.
Ganze Generationen lasen Floerickes naturkundliche Beobachtungen, die der promovierte Ornithologe unter anderem in "Kosmos" publizierte, der 1912 beachtliche 100.000 Leser hatte. Floericke schrieb nicht allein über Vögel, seine ausgedehnten Forschungsreisen hielt er in erzählmalerischen Berichten fest. Unter einem Pseudonym veröffentlichte er auch Gedichte. Das Vorwort zu "Nagetiere" übertreibt keineswegs: In jeden Satz passt garantiert noch ein weiteres Adjektiv. Die Zwergmaus ist nicht bloß ein Winzling. Floericke preist sie für ihre "Gebärden so unschuldig, so mimosenhaft, dass man ihr eigentlich gar nicht böse sein kann". Da fällt sein Tadel für den Schaden, denn die kleine Maus anrichtet, geringer aus als bei ihren Verwandten. Doch nach ihren "Untaten" kehrt Floericke zumeist die Vorzüge oder die schlichte Putzigkeit einer Art hervor.
Das lässt niemanden kalt
Grosskonzern Verlag
Schließlich folgen Floerickes Abhandlungen jenem Schema, das sich bis heute verbissen im Genre Tierfilm hält: Zuerst die Äußerlichkeiten, dann die zu Floerickes Zeit noch ausgesparte Paarung, gefolgt von ausführlicher Beschreibung über die Qualitäten des Tieres bei der Aufzucht des Nachwuchses und das Verhalten der Jungtiere mitsamt Gefahr im Anflug. Ein Bussard, eine Eule und zur Not ein Storch wird eiligst herbeigeschrieben. Floericke belässt die Todesdrohungen jedoch bei Halbsätzen. Als aufmerksame, weil Floerickes erzählerischem Stil verfallene Leserin vermute ich, der häusliche Hamster-Fightclub hat ihm einen langfristigen Schrecken eingejagt.
"Nichts deutete auf ausbrechende Uneinigkeiten hin, da - ich saß gerade arbeitend nebenan am Schreibtische - erscholl plötzlich ein Todesschrei aus dem Hamsterkäfig, und als ich hinzusprang, wälzte sich auch schon eines der Tierchen sterbend im Sande. Sein Bruder hatte ihm plötzlich ohne jede Veranlassung die scharfen Nagezähne in die Brust gegraben."
Weil so viel Nagetierleben keinen kalt lässt, hat sich der Herausgeber Jan Neersö so seine Gedanken gemacht. In bewusst gesetzten und überschaubaren Fußnoten liest man weiterführende Überlegungen, wie die Analogie zwischen den unvermuteten Laufgeschwindigkeiten der Springmaus und der Fehlgeplantheit des Flughafen Berlin-Schönefeld. Das bedürfte allerdings einer weiteren Fußnote oder eines Lokalaugenscheins. Die meisten Anmerkungen liefern jedoch erhellende Erläuterungen, so erklärt Neersö plausibel, was Dr. Floericke geflissentlich unterschlägt oder schlicht nicht wusste: Warum der Hamster zu einer derart blutrünstigen Kampfmaschine mutiert. Die Hamstermutter hat acht Zitzen und bekommt zwischen vier und achtzehn Junge. Da ist der Geschwisterzwist vorprogrammiert.
kaninchenforum.com
Penibles Sezieren von Tierkörpern interessierte Floericke nicht. Dass ihn ein Präparator auf Reisen begleitete, erfährt man nebenbei mit dem Verweis, dass der Kollege diesmal zu Hause geblieben wäre. Doktor Floerickes Augenmerk gilt dem Verhalten der pelzigen Tierchen.
Nicht zuletzt schreibt er den Nagetieren eine Vielzahl menschlicher Eigenschaften zu und unterteilt sie in brave, fürsorgliche, reinliche Wesen und jene, denen er gar Dreistigkeit vorwirft. An diesen Stellen ist man für die kommentierte Neuauflage dankbar, denn bei den Zuschreibungen an das schwarze Eichhörnchen als Zuzügler aus Russland könnte man dem Forscher Tendenzen unterstellen, die sich zum Glück nicht ausreichend mit Zitaten untermauern lassen.
So viel Verschmitztheit!
Dass weder Kaninchen noch Hase nach aktuellem Stand* der Forschung zu den Nagetieren gezählt werden, aber dennoch ausführliche Würdigungen erfahren, muss man Floericke nachsehen. Zu vieles drängte sich in den Fokus seines Feldstechers. Der Mann reiste in den Süden Europas und weit in den Osten, Tangar lag ihm zu Füßen, er blickte Anfang des 20. Jahrhunderts weit über Meerengen, und im Grenzgebirge zwischen Turkmenistan und Afghanistan erlebte er wildromantische Tage. Selbst Graz findet dank seiner zahlreichen Eichhörnchen Erwähnung. Eichhörnchen, die schätzte er im Gegensatz zum Murmeltier: "So viel Verschmitztheit und Schläue, so viel Gewandtheit, Turnerkunst, Geistesgegenwart und merkwürdige Stellungen, dass es in der Tat stark an den Affen, den fernen Bewohner des Urwaldes erinnert". Sollten einem jemals Komplimente ausgehen: Nur nicht genieren und bei Dr. Floericke studieren.
Weitere Leseempfehlungen:
fm4.orf.at/buch
Wer wusste, dass Eichhörnchen gerne an Fliegenpilzen naschen (Floericke unterstellt, dass sie wohl am Rausch Gefallen fänden) und Kaninchen schwimmen können? Oder dass in früheren Zeiten Burschen mit Murmeltieren durch Städte zogen und die Tiere mit kleinen Kunststücken vorführten? Daher kommt also das Lied "Murmeltier kann tanzen, eins, zwei, drei und vier!".