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Pia Reiser

Filmflimmern

4. 4. 2011 - 12:37

Kick das System

In "Der ganz große Traum" bringt Daniel Brühl den Fußball an eine deutsche Schule und eine kleine Revolution in Gang.

"My name is Konrad Koch", sagt der junge Mann mit Bart, Fliege, karierter Hose mit dazupassender Weste und zieht seine Mundwinkel leicht nach oben. Verwirrung durchweht die Schulklasse, "Lächelt der etwa?", flüstert einer der Buben irritiert. "Wahrscheinlich eine Kriegsverletzung", diagnostiziert der Banknachbar. Der Lehrkörper hat 1874 in Braunschweig normalerweise besseres zu tun, als zu lachen, die Schülerkörper zu trainieren zum Beispiel. Der Turnunterricht ist militaristische Leibesertüchtigung, untergeordnet - wie jedes andere Fach auch - den beiden Grundpfeilern der preußischen Erziehung: Disziplin und Gehorsam.

Daniel Brühl als Lehrer in "Der ganz große Traum"

thimfilm

Konrad Koch hat drei Jahre in England verbracht und kehrt nun in seine Heimat zurück, um Englisch zu unterrichten. Der reformfreudige Schulleiter (Burghart Klaußner) kann es kaum erwarten, das Experiment zu beginnen, die Schüler selbst sind skeptisch. Wozu die Sprache einer Nation lernen, die man sowieso früher oder später unterwerfen wird. "Wenn wir bis nach England vordringen, brauchen wir genügend Munition, kein Thi Äitsch", wird in der Untertertia analysiert.

Kochs Enthusiasmus wird scharf gebremst durch eine Vorurteils-Armada, die seine Schüler auf die Frage, was sie über die Engländer wissen, auffahren: Die Barbaren würden von den primitiven Kelten abstammen, die Insel mit Inzucht verseuchen, rohes Fleisch mit Pfefferminzsoße essen und hätten an der Staatsspitze eine Frau.

Der neue Lehrer hat aus England aber nicht nur jede Menge karierte Kleidung und Weltoffenheit mitgebracht, sondern auch einen Ball. Kleiner als ein Medizinball wird er einen Siegeszug durch die Welt antreten, ja, es ist ein Fußball. Ein Stufenbarren muss im Turnsaal als Tor herhalten, dann lässt Koch seine maulfaulen Schüler an- und reintreten. Ei kick ze bahl into ze gohl, deklamieren die Flitzpiepen immer noch TH-resistent, machen ersten Ballkontakt und müssen bald feststellen, dass das tatsächlich Freude macht. Das ist neu im deutschen Schulsystem.

Szenenbild aus "der ganz große traum", buben in einem turnsaal, die in einer reihe hintereinander stehen

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Sebastian Groblers Film macht ebenfalls Freude, weil er clever stets den heutigen Blick mitdenkt und die Komik mitunter aus der Ernsthaftigkeit kommt, mit der einige Väter und Lehrer schließlich gegen dieses neue, barbarische Spiel vorgehen. Dieses weibische Getrete hätte an einer deutschen Schule nichts verloren, mokiert sich Justus von Dohnányi als widerlicher Großbürger, Arroganz und Standesdünkel stets geschultert. Noch ahnt niemand im deutschen Kaiserreich, dass man ausgerechnet einen Fußballer einmal Kaiser nennen würde, wenn es längst kein Kaiserreich mehr geben würde.

"Der ganz große Traum" verdichtet die Geschichte des tatsächlichen Konrad Koch zu einem klamaukigen Stittenbild, in dem jede Figur eine gesellschaftliche Schicht oder Strömung verkörpert. Von Dohnányi ist der reiche Geck, angewidert von der Arbeiterklasse und neuen Ideen, Burghart Klaußner gibt verlässlich wie eh und je die sanfte Stimme der Vernunft, die freudig in die Zukunft blickt und es kaum erwarten kann, bis die Telegrafenmasten errichtet sind und mein Lieblings-Tatort-Kommissar Axel Prahl spielt den findigen, erfolgreichen Fabrikanten, der hinter jeder Ecke ein gewinnträchtiges Geschäft wittert. Milan Peschel besäuft sich als Schuldiener des Nächtens im Schulhof, weil seine Frau dem Frauenwahlverein beigetreten ist - man wolle sich gar nicht ausmalen, was passiert, wenn die auch noch wählen gehen - und Brühl schließlich gibt den, schwer von "Dead Poet's Society" inspirierten, Lehrer Koch.

Wie Robin Williams als John Keating will Koch mehr, als den Lehrplan durchpauken und wo Keating zu Walt Whitman und Henry David Thoreau griff, schnappt Koch nach Ball, Tor und der essentiellen Lektion von Fair Play. Das eben nicht nur für den Rasen gilt. Aus den Einzelkämpfern wird ein Team und natürlich kommt eine beinah zur Fabel verdichtete Geschichte wie diese nicht an dem Underdog vorbei. Der heißt in diesem Falle Joost, ein kleiner, lockiger, unschuldsmieniger Sohn einer Fabrikarbeiterin, getriezt von arroganten Großbürgersohn und mit zwei flinken Beinen ausgestattet. Joost flitzt über die Spielfläche und verfehlt das Tor so gut wie nie. Der soziale Status ist ausgehebelt, irgendwann hat das auch das Söhnchen aus bestem Hause verstanden.

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Kleiner Triumph, Niederschlag, größerer Triumph, Konflikt, Konfliktlösung größerer Konflikt und ein Finale, das alle Fäden zusammenführt: "Der ganz große Traum" orchestriert die Sportfilm-Sinfonie ohne irgendwelche Abweichungen und verwebt darin Fußballmythen und die bereits so oft erzählte Geschichte vom Lehrer, der Inspiration und Rebellion in das Klassenzimmer bringt, der zum Katalysator von Zivilcourage und Opposition wird. Das alte System wankt und bröckelt, durch den Lehrer hat man Mut dagegen anzulaufen und es zum Einsturz zu bringen. Fußball ist hier Subversion und Rebellion, Befreiungsschlag und eine kleine soziale Revolution.

Daniel Brühl, schlafend mit Fußball im Arm in dem Film "Der ganz große Traum"

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Dezent oder zurückgenommen ist hier nichts, "Der ganz große Traum" ist ein Film wie ein Pennälerwitz, bei dem sich gegen Ende Vertreter des Kaisers und aller gesellschaftlichen Schichten Braunschweigs zusammenfinden, deutsche Schüler gegen eine britische Mannschaft spielen, während eine Frau die Abseitsregel erklärt. Manchmal greift der Film zur oft so befreienden Form des Slapsticks, lässt den Fußball zwischen die Beine des dicklichen, rotgesichtigen Pfarrers prallen. Die mit dem Rohrstock gezüchtigten Schüler schießen zurück. Einen schönen running gag hat man sich außerdem aus "Adams Äpfel" ausgeborgt, in Kochs Zimmer fällt immer wieder das Bild des Kaisers von der Wand, so heftig weht der frische Wind, den der neue Lehrer von der Insel mitbringt.

"Der ganz große Traum" läuft seit 1. April 2011 in den österreichischen Kinos

Daniel Brühl stakst und gestikuliert mit fast Heinz Rühmann'scher Manier durch den Film, denn natürlich ist das hier atmosphärisch mehr "Feuerzangenbowle" als "Der Club der toten Dichter"; eine wunderbar besetzte und proper inszenierte Kusshand in Richtung Fußball, unterrichtsmaterialientauglicher Appell zur Eigeninitiative, dem man auch etwas abgewinnen kann, wenn man ansonsten mit dem Spiel mit dem runden Leder nichts, rein gar nichts, niente, absolut rien, nein, auch nicht dann, wenn WM ist, anfangen kann. Quod erat demonstrandum.