Erstellt am: 29. 3. 2011 - 15:25 Uhr
Veräppelung
In den 80er Jahren verwendete der Computerkonzern Apple George Orwells "1984" als Motiv für eine Fernsehwerbung. Apple stellte sich darin als Freiheitskämpfer gegen die Diktatur von IBM und Microsoft dar. 2011 aber kontrolliert Apple die Software auf elektronischen Geräten mehr als jeder andere Konzern. Im "Appstore", dem Onlineshop von iOS und neuerdings auch MacOS, werden Applikationen - also Anwendungen – von Apple-Mitarbeitern geprüft, klassifiziert und gesperrt. Offiziell nach einem strengen Regelwerk, in der Praxis oft willkürlich. Verboten ist laut dem Regelwerk etwa Pornografie, tatsächlich flogen schon Apps wegen erotischer Zeichnungen und der schattenhaften Umrisse weiblicher Brüste aus dem AppStore. Besonders oft führen homoerotische Inhalte zu Zensur: 2010 löschte Apple "The Importance of Being Earnest", einen Comic auf Basis des gleichnamigen Theaterstücks von Oscar Wilde. Geschlechtsteile sind in der schwulen Neuninterpretation des Stoffs nicht zu sehen. Trotzdem stellte Apple den gelöschten Comic erst nach Userprotesten wieder online, um ihn wenig später doch wieder zu sperren.
importance of being earnest
Für die deutsche Kommunikationswissenschafterin Miriam Meckel bezahlt man die Bequemlichkeit im Appstore mit Gängelung: "Apple bietet eine Art Neckermann-Pauschalreise durchs Web an. Man bucht über Apple, man hat einen Apple-Reiseführer, man hat die Apple-Informationen, man fährt nur an Apple-Orte und die Apple-Portiers sagen, ob man rein darf oder nicht, was man mit rein nehmen darf und wieviel es kostet."
"Ex Gay" App
Die Zensur homoerotischer Comics erscheint auch seltsam im Licht eines neuen Falls: Die Gruppe „International Exodus“ verkaufte eine Applikation, die „Freiheit von Homosexualität durch die Kraft von Jesus“ versprach. Apple bewertete die Software zur "Heilung" von Lesben und Schwulen mit Note vier: keine anstößigen Inhalte. Die Userproteste gegen die irreführende und hasserfüllte Applikation waren allerdings schärfer als je zuvor. Bürgerrechtler von Truth Wins Out veröffentlichten Videoaufrufe, in denen es etwa hieß: "Exodus International ist eine extremistische Anti-Homosexuellen-Organisation. Sie sagt jungen LBGT-Teenagern, sie wären krank und pervers. Diese App muss verschwinden!" Von der Löschung der "gay cure" ließ sich Apple allerdings erst überzeugen, nachdem Truth Wins Out über 150.000 Unterschriften gesammelt hatte.
Technische Filter
Applikationen von Radiostationen werden neuerdings aus dem Appstore geworfen, wenn sie außer einem Stream keine anderen Funktionen bieten. Vielleicht fürchtet Apple hier die Konkurrenz zum eigenen iTunes Store. Sonys Anwendung für eBooks hat Apple entfernt, weil man Bücher direkt in der Sony-App kaufen konnte, anstatt über Appstore oder iBooks. Und die Zeitschrift eines dänischen Verlags wurde aus dem AppStore entfernt, weil es darin um Android ging - jenes Betriebssystem, das die größte Konkurrenz zu Apples iOS darstellt. Benedikt Köhler von der Isarrunde sieht den ersten Schritt zu einer neuen Medienzensur: "Die Themen Web 2.0 und Social Web wurden anfangs so dargestellt: 'Die redaktionellen Filter fallen weg. Wir können direkt mit den Unternehmen, mit den Politikern kommunizieren.' So war die Rhetorik des Web 2.0. Was wir jetzt sehr stark sehen, ist dass die früheren Filter ersetzt werden. Anstatt Personen als Filter haben wir nun oft technische Filter. Das heißt, es wird auf eine technische Weise definiert, welche Zugriffe ich auf bestimmte Informationen habe, welche Quellen abgerufen werden. Wenn dort etwas nicht vorkommt oder wenn eine Applikation aus dem Store gesperrt ist, braucht der Betreiber keinen Grund anzugeben. Das ist eine sehr viel perfidere Möglichkeit der Zensur."
Das Beispiel Apple macht Schule. Während in den mobilen Betriebssystemen Windows CE und Windows Mobile früher jede Art von Software wie am PC selbst installiert werden konnte, ist das neue Windows Phone 7 fast genauso streng wie Apple. Der Noch-Marktführer Nokia gibt im Segment der Smartphones das eigene Betriebssystem Symbian auf, um Windows Phone 7 zu verwenden. Googles Android ist noch relativ zensurfrei, dort werden Apps vor allem gesperrt, wenn sie gegen Gesetze verstoßen oder die Sicherheit der User gefährden könnten – aber die Tendenz zur übertriebenen Kontrolle nimmt auch hier zu. Eine – allerdings technisch aufwändige - Lösung zum Umgehen der App-Zensur gibt es auf allen Systemen: Einen Jailbreak bzw. Hack des Geräts.