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Martina Bauer

Geschriebenes und zu Beschreibendes. Literatur und andere Formate.

29. 3. 2011 - 18:15

19 Schubladen voller Geschichten

Ein Ungetüm von einem Schreibtisch geistert durch die verschiedenen Erzählstränge von Nicole Krauss´ drittem Roman "Das große Haus".

Ein kursiv gesetztes „Sprechen Sie mit ihm“ ist der erste Satz des Buches.

Erst ein wenig abgesetzt eröffnet die erste Geschichte mit der Anrede "Euer Ehren". Das Programm ist vorgegeben.
Vier Ich-ErzählerInnen werden auf eben so vielen Ebenen ihre Leben, Geständnisse, Geheimnisse offenbaren. Einer Monologform mitunter nicht unähnlich. Und irgendwie, irgendwann verwickeln sich all diese wunderbar eigenen Geschichten miteinander.
Es wird nicht immer leicht sein, die Zusammenhänge, Abfolgen, Jahreszahlen sofort in die richtige Chronologie zu bringen. Das Buch fordert. Aufmerksamkeit. Beschäftigung. Vielleicht Zurückblättern.

Nicole Krauss

Alexandra Klever

Der Tisch

Die erste Protagonistin ist Nadja, Schriftstellerin. Im New York der 1970er überantwortet ihr der Schriftsteller-Kollege Daniel Varsky seinen Arbeitstisch. Er, ein jüdischer Chilene, wird in den Folterkammern Pinochets umkommen und der Tisch so gewissermaßen in Nadjas Besitz übergehen.
Bis 1999 das Telefon klingelt und eine vermeintliche Tochter des zu Tode Gekommenen das Möbelstück einklagt.
So beginnt Nadjas Verzweiflung und Suche, die bis nach Jerusalem führt.

Die Website von Nicole Krauss ist ein veritabler Fundus, will man mehr und weiterführend lesen. Hier präsentiert und verlinkt die Autorin Short Stories, Essays sowie (Audio-)Interviews.
2010 führte "The New Yorker" Krauss übrigens in seiner Liste der besten 20 SchriftstellerInnen unter 40 an. Auch ihr Mann, Jonathan Safran Foer, befand sich unter diesen "20 under 40". Das Ehepaar lebt mit seinen beiden Kindern in New York.

Besagter Tisch geistert mehr oder weniger durch alle Erzählstränge. Es ist ein Ungetüm von einen Schreibmöbel. Versehen mit 19, ungleich großen, teils über teils unter der Platte gelegenen Schubladen, von denen eine immer verschlossen bleibt:
"Ein riesiges, bedeutungsträchtiges Ding, das die Bewohner des Zimmers, in dem er stand, bedrückte, sich als unbelebt ausgab, sich aber ständig wie eine Venusfliegenfalle in Bereitschaft hielt, über sie herzufallen und sie via einer seiner schrecklichen kleinen Schubladen zu verdauen."
So jedenfalls formuliert es Arthur im Buch.

Die Reise

Er ist ein weiteres Ich - und bleibt wie auch die anderen drei eine Zeitlang namenlos. Zusammen mit seiner Frau Lotte lebt Arthur in London. Sie, eine geflüchtete deutsche Jüdin und ebenfalls Schriftstellerin, verschenkt Anfang 1970 einen Tisch. Arthur wird von dessen Fehlen zuerst nicht unterrichtet - und ein Viertel Jahrhundert später, kurz vor Lottes Tod, wird er ihre größte Heimlichkeit entdecken.

Nicole Krauss' Themen in "Das große Haus" sind Einsamkeit, Verlust, Schuld, Entfremdung, wie gut man einen anderes Ich jemals kennen kann. Und immer wieder blitzt jüdische Geschichte, vor allem ihre grausamsten Momente, durch.
Über ihr Schreiben sagt Krauss, dass es gewissermaßen eine Reise ist, von der sie selbst zu Beginn nicht weiß, wohin sie geht:

“I begin my novels without ideas. I don't have a plot, or themes, or a sense of the book's form. Often I don't even have a specific character in mind. I begin with a single sentence of no great importance; (...) To that sentence I add another, and then another. (...) If I'm lucky, as the paragraphs accumulate, a compelling voice will emerge."

rowohlt

"Das große Haus" ist Nicole Krauss´ dritter Roman. In der Übersetzung von Grete Osterwald ist er bei Rowohlt erschienen.
Hier englische und deutsche Leseproben

Das Haus

Die beiden weiteren Ebenen des Romans führen nach Israel – zu einer von Missverständnissen geprägten und damit mehr oder weniger gescheiterten Vater-Sohn-Beziehung – sowie erneut nach London. Hier ist, neben Arthurs Geschichte, auch eine komplexe Liebesgeschichte im Stile eines französischen Bohemien Films (gefühlig: Schwarz-Weiß) beheimatet. Ein Geschwisterpaar und dessen Beziehungen werden vom Vater beherrscht, den wiederum die Vergangenheit geisselt. Neuerlich divergieren die Erzählzeiten.

Insgesamt spielt nicht nur das verbindende Element des Tisches, sondern gleichfalls ganze Häuser eine nicht unwichtige, emotionale Rolle im Leben der ProtagonistInnen. Es sind widerhallende Mauern, die Familienmitgliedern, die Gewesenes erzählen könnten, gleichen. Behausungen für Geschichten eben; wobei der Romantitel selbst auf einen geschichtlich-religiösen Hintergrund anspielt.

In einem Interview mit der faz wird Nicole Krauss, die eigentlich aus der Lyrik kommt, mit dem interessanten Vergleich zitiert, ein Gedicht sei wie ein Zimmer: "Die Abmessungen sind definiert, der Raum ist klein: You can make it perfect, and shut the door. Anders der Roman. Er sei wie ein Haus. Irgendetwas sei immer kaputt, die Türen seien offen und das Risiko, Fehler zu machen, sei immer gegenwärtig."

"Das große Haus" ist ein Buch, das schwer umfassend zu beschreiben ist – oder wie seine Autorin sagt, es reichen eben nicht ein paar Worte, sondern es braucht das ganze Buch dazu.
Wahrscheinlich macht gerade dieser Umstand den Roman zum Wiederlesen besonders geeignet.