Erstellt am: 26. 3. 2011 - 15:14 Uhr
No More Heroes
Ach, sie geben dort drüben in Hollywood nicht auf. Die erste Liga der kostümierten Ikonen pausiert zwar derzeit gerade filmtechnisch. Erst 2012 werden Batman und Spider-Man ins Kino zurückkehren, ergänzt durch das Allstarteam The Avengers. Und sogar der Mann aus Stahl meldet sich dann höchstpersönlich für ein Comeback an.
Das heißt aber nicht, dass die diversen Studios heuer auf Super-Männer und Frauen in bunten Trikots verzichten. Zweitausendelf ist das Jahr der Helden aus den eher hinteren Reihen, die geballt ins Rampenlicht drängen.
Einer der schrottigsten Trailer seit langem kündigt Ryan Reynolds als Green Lantern an, ein altgedientes Markenzeichen aus dem Hause DC. Marvel schickt im Gegenzug gleich Thor und Captain America ins Rennen, was die Herzen von eingefleischten Comicgeeks zum Rasen bringen dürfte.
Dem gewöhnlichen Cineplex-Besucher, vor allem in Europa, werden der hammerschwingende nordische Gott und der blaugedresste Bewahrer sämtlicher US-Tugenden aber vielleicht eher egal sein.
Marvel
Ein bisserl bieder wirken sie jedenfalls allesamt, die Superhelden des Kinojahrs 2011, schon die Papiervorlagen geben punkto moralischer Zerrissenheit (hallo, Tony Stark!) nicht viel her.
Wer der stets integren und vorbildhaften Verbrechensbekämpfer etwas überdrüssig ist, darf sich zumindest auf James Gunns "Super" freuen. Die rabenschwarze Genre-Dekonstruktion über ein höchst ungleiches Vigilantenpaar kommt Menschen wie mir, die noch immer vor dem Altar von "Kick-Ass" knien, sehr entgegen.
Hochdosiertes anarchisches Gegengift bietet aber vor allem auch eine britische TV-Serie, die zwar etliche Comic-Klischees aufgreift, aber einzig dem Gehirn des Londoner Fernsehautors Howard Overman entsprungen ist. 2009 strahlte der E4-Channel die ersten Folgen von "Misfits" aus – und seither ist die Welt der mit speziellen Fähigkeiten begabten Helden wirklich nicht mehr dieselbe.
Channel 4
Die Misfits, das sind Nathan, Kelly, Simon, Curtis und Alisha, fünf vom Leben genervte ASBO-Kids, die wegen diverser kleinerer Delikte Sozialarbeit leisten müssen. Als sich ein wüster Sturm über dem Gemeindezentrum zusammenbraut, hoffen die Jugendlichen zumindest auf einen freien Tag. Aber das mysteriöse Unwetter hat Folgen. Jeder der Außenseiter wird durch einen Blitzschlag verwandelt.
Ganz langsam kristallisieren sich Fähigkeiten heraus. Curtis kann offensichtlich die Zeit zurückdrehen, das schnoddrige Chavgirl Kelly hört plötzlich die Gedanken von anderen, Alisha treibt jeden, der sie berührt, in die sexuelle Raserei, der sensible Simon wird unsichtbar, wenn er sich konzentriert. Nur der goscherte Nathan, der mit seinen Verbalattacken alle zum Kochen bringt, hat sich anscheinend nicht verändert.
Nathan: "We're young. We’re supposed to drink too much. We're supposed to have bad attitudes and shag each other's brains out. We were designed to party. We owe it to ourselves to party hard. We owe it to each other. This is it. This is our time."
Wie Howard Overman diesen ambivalenten Charakteren (und das ist milde ausgedrückt) immer mehr Tiefe verleiht, wie sein junges Produktionsteam aus einem minimalen Setting das Maximale herausholt, das gehört aktuell zum Aufregendsten in Sachen Genre-Fernsehen.
Würde sich der gefeierte Comic-Umstürzler Alan Moore in TV-Gefilde begeben und seinen Hass gegen die aalglatten Protagonisten des amerikanischen Serienerfolgs "Heroes" herauslassen, dann könnte das Ergebnis wohl ähnlich aussehen wie die bisherigen zwei Staffeln "Misfits".
Channel 4
Offensive Satire und ernsthaftes Drama, Wahnsinn und Witz, giftige Punkattitude und blitzgescheite Gegenwartsanalyse, all das prallt meist in einer einzigen der angenehm kurzweiligen Episoden aufeinander. Bis zum bersten gespickt ist die Serie mit popkulturellen Referenzen, vom Sonderling Simon, der sich als exaktes Ian-Curtis-Double entpuppt, bis zum Kele-Lookalike Curtis, ohne dabei jemals neunmalklug zu wirken.
Gar nicht zu reden vom Soundtrack, der bereits im Vorspann The Rapture featured und sich von Indie-Electro über Alternative-Country und Dubstep bei so ziemlich allen relevanten Styles bedient. Aber nicht, um oberflächlich irgendwelchen Hipsterismen genüge zu tun, sondern zur perfekten Stimmungsverstärkung. Marschieren die "Misfits" kollektiv in den Club, dann geht es dermaßen authentisch zu, sodass österreichische Serienmacher nur erblassen können.
"So a few of us will overdose, or go mental. Charles Darwin said you can't make an omelette without breaking a few eggs. That's what it's about - breaking eggs - by eggs, I mean, getting twatted on a cocktail of class As."
Vor allem ist es aber die ausgesprochen respektlose Qualität, die Fernsehverantwortliche im deutschen Sprachraum vermutlich nach Luft schnappen lässt. Dank eines kulturellen Klimas, in dem jemand wie Ricky Gervais (zu Recht) zur Ikone aufsteigen kann und schonungslose Teenage-Aufarbeitungen wie "Skins" für fette Quoten sorgen, haben auch die "Misfits"-Schöpfer sämtliche Freiheiten.
Und die nützen sie ordentlich aus. Durchgedrehte Sozialhelfer werden schon mal um die Ecke gebracht, ohne dass dabei unsere Sympathiewerte für die nette Asozialengang sinken. Es gibt Sex mit steinalten Menschen, Sex mit Hochschwangeren, Sex als simple Freizeitbeschäftigung, sinnentleerten Partysex. Drogen aller Arten spielen ebenso eine Rolle wie ein vollkommen trister Blick auf die soziale Realität Großbritanniens im Zentrum steht, ohne im Gegenzug Utopien anzubieten.
Channel 4
Ist "Misfits" also eine Ode an die juvenile Selbstverschwendung, an die hormongesteuerte Blindwütigkeit, an die Leere und den Rausch und das Dohertysche "Fuck Forever"? Ja, schon.
Aber gleichzeitig blitzt immer wieder ein warmherziger Humanismus auf. Und natürlich jede Menge Humor.
In der zweiten Staffel mutiert das reduzierte ASBO-Kammerspiel. Immer mehr große Gefühle durchdringen das emotionale Vakuum, eine epische Superheldensaga kündigt sich an. Dieses Mehr an Pathos mögen einige Hardcore-Fans als milden Ausverkauf deuten, ich habe es ganz konträr als Bereicherung empfunden. Howard Overman und seine Crew drehen sich nicht im Kreis, das "Misfits"-Universum dehnt sich aus, die kribbelnde Spannung bleibt erhalten.
"We had it all. We have fucked up bigger and better than any generation that came before us. We were so beautiful... We're screw-ups. I plan on staying a screw-up until my late twenties, or maybe even my early thirties. And I will shag my own mum before I let her... or anyone else take that away from me!"
Mit einer billigen DVD-Box, aus England importiert, lässt sich locker Anschluss finden an die lässigste Gang aus Losern, Sexsüchtigen, Kriminellen und Verweigerern, die das Fernsehen derzeit zu bieten hat. Wir leben im Zeitalter der Antihelden, die "Misfits" sind stolze Aushängeschilder.
Channel 4