Erstellt am: 27. 3. 2011 - 13:43 Uhr
Warum Erwachsene Pokémon spielen
Wenn ein erwachsener Mensch sagt, dass er Pokémon spielt, erntet er hierzulande eher belustigte Blicke. Pokémon, das ist doch diese Zeichentrickserie, in der eine elektrische Maus andere Monster verprügelt? Und dann noch ein Videospiel dazu - Kinderkram, wie kann man nur seine Zeit mit so etwas verschwenden. So verschweigen Fans ihr Hobby, aus Scham und Angst, für kindisch oder zurückgeblieben gehalten zu werden.
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Die westliche Welt hat ein Problem, das im Pokémon-Ursprungsland Japan nicht existiert. "Kawaii", der japanische Begriff für süß, kindlich und attraktiv, hat sich dort als ästhetisches Konzept auf alle Gesellschaftsbereiche ausgedehnt. Viele Europäer glauben, dass niedliche Dinge prinzipiell "für Kinder" sind und als Erwachsener nicht gemocht werden dürfen. Das Stigma resultiert aus dem weit verbreiteten Vorurteil, Unterhaltung für Kinder sei nicht ernstzunehmen. Denn: Natürlich rezipiert ein Kind Kultur anders als ein Erwachsener. Es ist überfordert, wenn Charaktere in komplexe moralische Dilemmas geraten und akzeptiert daher Klischees und Schwarzweiss-Malerei; aufgrund mangelnder Lebenserfahrung empfindet ein Kind eine Handlung als aufregend, die ein Erwachsener für abgedroschen hält; das Gehirn eines Kindes lernt durch Wiederholung und stört sich deshalb nicht daran; ein Kind hat eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne und steigt aus, wenn Dialoge zu lang und zu komplex sind.
Viele Erzeuger von Unterhaltungsprodukten für Kinder nützen diese Erkenntnisse schamlos aus. Das Ergebnis ist tatsächlich oft Mist, der nicht nur als Erwachsener kaum auszuhalten ist, sondern auch den Kleinen nicht zugemutet werden sollte. Das bedeutet aber nicht, dass Entertainment für Kinder nicht auch Qualitäten aufweisen kann, die es für Erwachsene interessant machen. Und im Idealfall wird Kultur für Kinder mit denselben Qualitätsstandards produziert wie Erwachsenenunterhaltung.
Nintendo
Ambivalente Charaktere und eine komplexe Handlung machen einen Film für Erwachsene sehenswert. Ein guter Schreibstil hebt einen Roman über den Durchschnitt. Spielmechanik und Strategie kommen als ausschlaggebende Elemente für die Qualität eines Videospiels hinzu. Ja, Pokémon-Spiele haben vorhersehbare menschliche Charaktere und einen schwachen Plot. Die Qualität der Games liegt aber in ihren komplexen strategischen Möglichkeiten, in der Vielfalt der Monster-Charaktere (mehrere hundert mit vielfältig kombinierbaren Fähigkeiten) und in der Offenheit der Spielwelt (es kann weitergespielt werden, wenn die Haupthandlung beendet ist). All diese Aspekte können auch Erwachsene fesseln: Sie können mit einem Pokémon-Rollenspiel in einen kindlichen State of Mind gehen können, ohne gelangweilt zu werden - im Gegenteil, sie werden angenehm überrascht von den vielen strategischen Möglichkeiten.
Nintendo
Auch Jesse Divnich, Forscher bei Electronic Entertainment Design and Research (EEDAR), hält es für einen Irrglauben, dass Nintendo-Spiele nur von Kindern rezipiert würden. Am meisten sei das bei kürzlich veröffentlichten Super-Mario-Games ersichtlich: "The dominant demographic for 'New Super Mario Bros Wii' are males and females over 24 years old."
Jahrzehntelang auf den Stärken einer Serie aufzubauen und sie weiterzuentwickeln ist eine Kunst, die Nintendo beherrscht wie kaum ein anderer Game Developer.
Der Journalist StephenTotilo wiederum beschreibt in seinem Artikel Why A Man Plays Mario, warum er glaubt, ein neues Super-Mario-Game sogar mehr genießen zu können als ein Zehnjähriger: Wegen der vielen Anspielungen und Verweise auf das Original, und aufgrund der Weiterentwicklung der Mario-Spielmechanik, die aus jahrzehntelang übereinandergelegten "Schichten" von Ideen gemacht sei. Er könne das nur wertschätzen, weil er die Serie seit zwanzig Jahren spiele.
Das gilt auch für die eben veröffentlichte Schwarze und Weisse Edition von „Pokémon“ für den Nintendo DS, entwickelt vom Nintendo-Partnerstudio Game Freak. Die fünfte Inkarnation des Themas kann mich als Erwachsenen fesseln, und dafür sind nicht nur die dramatisch ausgebauten Onlinefunktionen, die bessere Grafik oder die noch ein wenig verfeinerte Steuerung verantwortlich. Hinter der süßen Knuddeloptik und der kindlichen Geschichte verbirgt sich ein komplexes Rollenspiel, das auf den Stärken vorangegangener Teile aufbaut und alles besser macht, als zuvor.