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25. 3. 2011 - 15:22

Nach der großen Katastrophe

Wie sich der permanente Ausnahmezustand in Japan anfühlt. Robert Lindner berichtet aus Okinawa.

robert lindner

robert lindner

Robert Lindner (30) studierte in Dresden Politik und Soziologie und lebt derzeit im Westen Tokios, um Feldforschung für seine Dissertation über japanische Umweltpolitik zu betreiben.

Als das große Erdbeben zuschlug, war ich gerade mit der U-Bahn auf dem Weg in die Innenstadt. Wie alle anderen in Tokio war ich geschockt durch die Stärke und durch die erst danach langsam durchsickernden Medienberichte über die gewaltigen Zerstörungen im Norden. Am meisten hatte mich überrascht, dass in Tokio selbst keine größeren Schäden zu sehen waren und dass es, abgesehen von der Stilllegung des öffentlichen Transportsystems und des Mobilfunknetzes, anfangs ganz danach aussah, als ob sich die Lage in der Stadt schnell wieder normalisieren würde.

Die ersten Berichte über die Atommeiler im japanischen Fernsehen waren zwar beunruhigend, aber nicht wirklich dramatisch. Umso mehr erstaunte mich die Flut an besorgten Emails und Telefonanrufen, mit denen meine ausländischen Bekannten und ich die nächsten Tage überschüttet wurden.

Ich befand mich bald in einer ähnlichen Lage wie viele andere Ausländer: der Informationspolitik der japanischen Regierung und des AKW-Betreibers wollten wir nicht ganz glauben und von Seiten der internationalen Medien und unserer Angehörigen zu Hause bekamen wir vor allem Panik vermittelt. Auf der einen Seite dachten meine Verwandten, Freunde und Kollegen in Deutschland, ich wäre total übergeschnappt, auch nur einen Tag länger zu bleiben, und forderten meine sofortige Heimkehr. Auf der anderen Seite konnten die meisten meiner japanischen Freunde und Bekannten, wenn natürlich auch besorgt und angespannt, nicht verstehen, warum ich denn - wie viele andere Ausländer - Hals über Kopf die Stadt verlassen wollte.

japanisches fernsehen

japanisches fernsehen

Die gefährdeten Gemüsearten bestimmter Regionen.

Um die Wogen zu glätten, und natürlich auch, um mich selbst zu beruhigen, entschloss ich mich daher, sicherheitshalber eine Weile nach Okinawa im Südwesten Japans zu reisen. Der Kompromiss: Weit entfernt von den AKWs, aber immer noch in Japan. Ich wollte angesichts der widersprüchlichen Informationen nicht kopflos reagieren und gleich das Land verlassen, aber auch nicht meine Angehörigen zu Hause unnötig im Ungewissen lassen.

Im Nachhinein hatte sich meine Entscheidung als recht vernünftig herausgestellt, aber wie bei vielen anderen auch hinterließ die Abreise sehr gemischte Gefühle. Einerseits war die Ungewissheit des Abschieds für alle sehr schwierig und es blieb zudem der unangenehme Eindruck, man würde irgendwie seine zurückbleibenden Freunde im Stich lassen. Dazu war es wirklich traurig zu sehen, wie das ansonsten so quietschbunte, laute und überfüllte Tokio aufgrund von Stromsparmaßnahmen, leeren Supermärkten und eingeschränktem Bahnverkehr auf einmal dunkel und verlassen wirkte.

Andererseits fiel mir nach meiner Ankunft in Okinawa auch endlich die tagelange Anspannung von den Schultern, da man nicht immer wieder durch eines der zahlreichen Nachbeben aufgeschreckt oder durch die ständig diffus in der Luft hängende nukleare Bedrohung beunruhigt wurde. In der südlichsten Provinz Japans merkt man kaum etwas von der Katastrophe im Norden. Das Leben geht hier seinen ganz normalen Gang, auch wenn die Katastrophe natürlich ständig Thema in Medien und Alltagsgesprächen ist und überall um Spenden geworben wird.

japan tv

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Expertenrunde zur Gefahr durch verseuchtes Leitungswasser

Ruhe nach dem Sturm

Inzwischen findet die AKW-Katastrophe nicht mehr die übersteigerte Beachtung in den Medien zuhause und auch auf den japanischen Kanälen werden wieder die üblichen Beiträge und Unterhaltungsshows gezeigt. Aber natürlich hat sich die Situation am Atommeiler in Fukushima noch lange nicht beruhigt und in den nordjapanischen Auffanglagern warten immer noch zehntausende Flüchtlinge auf überlebensnotwendige Unterstützung.

Seit ein paar Tagen ist die nukleare Dauerkrise, die bisher noch als eher abstrakte Bedrohung zur Seite geschoben werden konnte, durch die Meldungen über verstrahlte Lebensmittel und das Tokioter Leitungswasser hinein in den praktischen Alltag gerückt. Die Menschen sind verunsichert. Was kommt als nächstes? Wie weit wird sich die Radioaktivität ausbreiten? Welche Lebensmittel sind noch sicher? Darf man mit dem Leitungswasser eigentlich noch kochen, Zähne putzen oder das - in Japan überaus beliebte – abendliche Bad nehmen?

Zusätzlich zu den sich ständig ändernden und oft widersprüchlichen Angaben kommt ja auch noch, dass viele Menschen das erste Mal in ihrem Leben von Worten wie Becquerel oder Mikrosievert gehört haben und die publizierten Daten meist überhaupt nicht einordnen können. Die Regierung und die Medien versuchen, durch Aufklärung gegenzusteuern und mit relativ unaufgeregter und detaillierter Berichterstattung zu beruhigen. Aber was kann man noch glauben, wenn sich selbst offizielle Stellen oft widersprechen und Informationen nur scheibchenweise herausgegeben werden?

Während die einen sich die Nachrichten schön reden oder manche auch kaum noch Nachrichten schauen, sitzen andere nach wie vor auf gepackten Koffern und warten ab. Das Leben muss irgendwie weitergehen und kaum jemand kann im ohnehin urlaubsarmen Japan einfach mal schnell „ein paar Tage blau machen“. So verhalten sich alle weiter wie nach dem Erdbeben und in der nuklearen Dauerkrise: sich fügen, abwarten und so gut es geht den Alltag aufrechterhalten.

japan tv

Aufklärung über den Einfluss der Strahlung auf die Nahrungskette im Meer im japanischen Fernsehen.

Auch ich werde in den nächsten Tagen wieder nach Tokyo zurückkehren. Und ja, auch ich bin immer noch verunsichert. Und das selbst, nachdem mir einige Nuklearphysiker im persönlichen Bekanntenkreis die Unbedenklichkeit der gemessenen Werte versichert haben. Zum Glück habe ich gerade eine ältere japanische Studie gesehen, in der behauptet wird, dass Bier trinken aus irgendeinem Grund die Strahlenbelastung verringern helfen soll. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber ich werde selbstverständlich kein Risiko eingehen und dem guten Ratschlag folgen!

Auf jeden Fall hat die schnelllebige japanische Sprache schon auf die jüngsten Entwicklungen reagiert. Es scheint sich gerade ein neues Wort einzubürgern, das teils scherzhaft, teils "nachtragend" den Massenexodus der Ausländer beschreibt: "flyjin", eine Mischung aus "fly" und dem japanischen Wort für Ausländer "gaijin".