Erstellt am: 24. 3. 2011 - 20:38 Uhr
Journal 2011. Eintrag 63.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und zuletzt 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag als Anregungs- und Denkfutter, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich das ganze Jahr über Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit einem kaum erwarteten Ausflug in die Blut&Beuschl-Ecke, der allerdings mit dem Vorfinden eines doch bekannten Szenarios endet: auch der Fall Kampusch bewegt sich digital.
Wenn die Chronikredaktionen und ihre fleischgewordenen Bassena-Beförderer, die Small-Talker des Alltags, sich anschicken, eine neue Sau durch meine Welt treiben zu wollen ('Hams des ghört, des mit dem Verbrechen/der Entführung/dem Mord/dem Unfall/der Katastrophe? Ein Waaahnsinn, gööö?'), dann stellen sich meine Öhrchen ganz von selber auf Durchzug. Interessiert mich nur bei allfälliger Bekanntschaft.
Der Blut- und Beuschl-Journalismus, das weiß ich aus meinen Anfangstagen (die verbringt der junge Journalist nämlich, zumindest früher, immer in der Chronik, zu "Lernzwecken"), ist ausschließlich fürs Ausspähen und Anfixen der niedersten Instinkte da, ein Geil/Giermacher für die Auflage. Die an solche "aufsehenerregende" Fälle wie das Amen im Gebet angeknüpfte Heuchel-Debatte (Hätte man das verhindern können? Wie geht man mit dem Bösen um? Sind die brutalen Computerspiele schuld?) gehört zum Widerlichsten und Verlogensten überhaupt, vor allem, wenn sich dann auch noch populistische Instrumentalisierer reinhängen.
Unter anderem deswegen haben mich Details, Hintergründe, Fakten, Vermutungen, Skandale, Verschwörungstheorien, Fachbücher, autorisierte und nichtautorisierte Biografien des Falles Natascha Kampusch bislang genau gar nicht interessiert oder beschäftigt.
Und ich hatte ein anderes Motiv, den heute vermeldeten neuen Aufdecker-Report im Kurier anzuklicken: nachschauen, wie sich die zwei Mann hohe Investigativ-Redaktion des Kurier so tut, im Umfeld der dortigen Wegsparmaßnahmen und KV-Fluchten.
Runter in die Bluflocki-Hölle
Für mich als Kampusch-Laien war vor allem die Ankündigung, Materialien zu veröffentlichen, die mutmaßlich aber offensichtlich illegal beschafft worden waren, interessant. Weil sich hier wieder einmal die leise Verlogenheit von Mainstream Media dem Netz (Stichwort: Wikileaks) gegenüber manifestiert. Als ob auf krummen Wegen an die Öffentlichkeit Geratenes und dort mit halblauen Kommentierungen Versehenes durch die Tatsache, dass es in "der Zeitung" steht, wichtiger/seriöser/gehaltvoller/besser wird, als wenn es im Netz kursiert.
Um mich da kundig und im Vergleich sicher zu machen, bedurfte es ein paar kleiner Sucheinheiten. Und weil ich das mit der kürzlich an dieser Stelle als notwendig bezeichneten Interessensstreuung nicht so dahingesagt, sondern ernstgemeint habe, blieb dann nix anderes übrig als ein eintauchen in die bislang bewusst vermiedene Blutflocki-Hölle.
Gegen das, was sich hier ganz knapp unter der Oberfläche der Berichterstattung, im verschwörungs- und tratschsüchtigen Mainstream-Bereich abspielt, sind die scheinideologischen Verbalschlägereien in den Foren der kaum kontrollierten Mainstram-Medien-Netzwerke nämlich ein Kindergeburtstag. Weil dort nur hohl geblökt wird - während sich im Fall Kampusch eine ganzen Szene, ein wahres Biotop von selbsternannten Milizionären entwickelt hat, die die kollektive Versagens-Kultur der Ermittler hervorgebracht hat.
Annehmen, vermuten, schuldig sprechen
Die zentrale Debatten-Platform findet sich im Presse-Blog des Redakteurs Manfred Seeh, es gibt aber auch Upload-Seiten einzelner User. Und hier fetzen sich im Minutentakt ein schwaches Dutzend Identitäten, die ihr Leben der Sache geweiht haben. Der Sache Kampusch. Hier wissen alle alles. Und alle sind Täter, allen wird das Post-It mit "Schuldig!" auf den Rücken gepappt. Der Kampusch sowieso, der Sirny überhaupt, dem Koch eh auch, dem Priklopil seiner Mama, dem Holzapfel, der offiziell vom Mittäterverdacht freigesprochen wurde, und seiner Schwester, der Wendelberger. Den vielen großen Unbekannten, der Pornoketten-Besitzerin, dem Heeres-Offizier, dem stoppelglatzigen zweiten Entführer. Und auch den Ermittlern, dem Soko-Koch, den Staatsanwälten, den Verhinderern, dem Rzeszut, dem für seine unziemlichen Bemerkungen verurteilten Adamovich, der so seltsame Hämatome im Gesicht hatte, als er sich öffentlich quasi entschuldigte. Und natürlich Chefermittler Franz Kröll, der sich unter dubiosen Umständen umbrachte.
Alles Täter, sogar Mutti.
Und außerdem dräuen im Hintergrund Komplotte, die bis in die hohe Politik hineinreichen würden - deshalb auch die Weisungen und die Hämatome. Und die Tatsache, dass einzelne der Dauerposter dies alles ganz offensichtlich als Hauptbeschäftigung betreiben, nährt die Annahmen- und Vermutungs-Kultur.
Differenzierte Info-Wolken statt chronikaler Listung
Wer wie ich zwei, drei Stunden in diese eigene Welt eintaucht, bekommt neben klassischen medialen Blickwinkeln, egal ob sie aus Australien, Wien oder Frankfurt stammen, massenweise aus irgendwelchen Quellen gezerrtes Datenmaterial (ich sage nur: die genauen Anruflisten vom Tag der Flucht - wer wann wo wie lang mit wem; und zwischen Priklopil und Holzapfel getauschte Handys erschweren die Zuordnung massiv; und nein, die Handytausch-Sache ist keine Irrlichterei, die wird sogar vom Innenministerium bestätigt...) und noch mehr an Vermutungen und Annahmen geliefert. Die Liebes- und Lebensverhältnisse von Nebenfiguren, die - weil etwa ehemalige Polizisten - eine Rolle spielen könnten. Dazu dauerndes Zitieren von Zeugenaussagen und die vielen Fragen, warum viele wirklich wichtige Fragen nicht gestellt wurden und...
Mir schwirrt der Kopf.
Als ich dann, zur Erholung, kurz abbreche und des Kollegen Einöders ungemein clevere Analyse zur Einstellung der Neonazi-Website Alpen-Donau-Info lese, fällt mir auf, dass genau die dort verwendete Form der Informations-Wolken schon längst unser Denken und Handeln übernommen haben: alles ist gleichzeitig möglich - und nur wer alle gleichzeitigen Möglichkeiten aufzeigt, hat eine Chance auf Erhellung seiner selbst und auch eines möglichen Publikums.
...die zur globalen Bassena angeschwollene Welt...
Deshalb erreichen auch brave stringente, von A nach B schauende, einer einzelnen These anhängende Medien-Berichte nichts: nicht nur, weil die Chronik-Blutflockis außer einfachen Schuldzuweisungen nichts zu sagen haben und sich darin einer erstaunlich konventionell und unkreativ denkenden und handelnden Justiz und ihrer 19-Jahrhundert-Zugänge was Recherche und Wahrheitsfindung betrifft, anpassen. Sondern weil eine zur globalen Bassena angeschwollene Welt nur so abzubilden ist, mit Wikileaksmäßigem Haudrauf und mit verschwörungsträchtigen Foren.
Deshalb ist der Versuch des Kurier, hier einen neuen, dritten Weg zu finden, einen zwischen herkömmlicher, quasi-analoger Auflistung und schwarmförmiger, quasi-digitaler Aufplusterung, auch so interessant. Nicht, weil ich glaube, dass das funktionieren wird, wenn man sich zwar der wilden neuen Mittel bedient und sie mit dem Etikett "gediegen und echt" versieht. Sondern weil es wichtig ist, überhaupt etwas zu probieren, weil nur Bewegung Erkenntnis bringt.