Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Hilfe, die EU kriegt eine Wirtschaftsregierung"

Pinguin

Hinweise zur geistigen Selbstverteidigung in Wirtschaftsfragen. Hauptwohnsitz: Zeitschrift Malmoe

23. 3. 2011 - 14:55

Hilfe, die EU kriegt eine Wirtschaftsregierung

Brüssel zieht seltsame Lehren aus der Krise.

„Neoliberalen Konstitutionalismus“ hat der Politikwissenschafter Stephen Gill einmal den Versuch genannt, wirtschaftsliberale Glaubenssätze per internationaler Verträge in eine Art Verfassungsrang zu heben. Damit würde eine spezielle Politikausrichtung einzementiert und gegen das Risiko der Aushebelung im Zuge wechselnder Mehrheitsverhältnisse auf nationalstaatlicher Ebene permanent abgesichert.

Die EU ist derzeit wieder dabei, eine große Ladung solchen Zements anzuliefern. Das Häuschen, das sie damit baut, heißt „Europäische Wirtschaftsregierung“ und wird dieses Frühjahr als Lehre aus der Krise verkauft. Diese Woche Donnerstag und Freitag sollen beim EU-Gipfel in Brüssel entsprechende Beschlüsse fallen. Die konkreten Vorschläge liegen jedoch zu einem Großteil schon lange in den Schubladen der Europäischen Kommission, nationalstaatlicher Bürokratien und von Unternehmenszentralen. Nun scheint der Zeitpunkt ihrer Durchsetzbarkeit gekommen.

Überwachen und Strafen

Kernpunkt: Die Budgetpolitik der Mitgliedstaaten wird einer verschärften Überwachung unterzogen. Schon bisher war der Spielraum, den der EU-„Stabilitätspakt“ vorgibt, eng: Mittelfristig sollten Einnahmen und Ausgaben des Staates einander in etwa die Waage halten, für Defizite (also ein Minus unterm Strich am Ende des Jahres) gibt es eine maximale Obergrenze von 3% der jährlichen Wirtschaftsleistung. Wer drüber liegt, wird bestraft. Nun werden darüber hinaus auch noch die Ausgaben eigens begrenzt. Im Prinzip konnte ein Staat bislang im Rahmen des Stabilitätspakts beliebig viel ausgeben, solange er nur genug Steuern einhebt, um diese Ausgaben zu decken. Nun sollen die Ausgaben pro Jahr maximal in Höhe des jährlichen Wirtschaftswachstums gesteigert werden können. Es geht also nicht um das Verhindern von allzu großen Defiziten, um Überschuldung zu vermeiden. Nein, die Rolle des Staates soll in Zaum gehalten werden, sodass nicht irgendwelche Bevölkerungsgruppen allzu dreiste Ausgabenforderungen durchsetzen können. Proteste, Volksbegehren und Druck sorgen in einem Land für einen massiven Investitionsschub zum Bildungsausbau, finanziert durch eine Sonderabgabe für Vermögende? Sofort blinken in Zukunft die EU-Warnlichter, womöglich drohen sogar Sanktionen wie etwa Strafzahlungen.

EU-Kredo: Stabilität durch schlanken Staat

pods

EU-Kredo: Stabilität durch Selbstverschlankung und harte Arbeit

Ein weiterer Punkt der „verschärften Haushaltsüberwachung“: Bislang konzentrierte sich die Überwachung auf das jährliche Budgetdefizit. Doch nun soll auch der staatliche Gesamtschuldenstand (also die Summe aller Defizite der Vergangenheit) verstärkt in den Fokus geraten. Es soll Zielvorgaben für seine schrittweise Rückführung geben, und deren Verfehlung mit Sanktionen belegt werden. Begründung: Die Schuldenstände der Mitgliedstaaten sind seit Ausbruch der Krise rasant angestiegen, und bedrohen zunehmend die Kreditwürdigkeit der Staaten auf den Finanzmärkten. Was nicht dazu gesagt wird: Der Grund für die gewachsenen Schuldenstände sind nicht plötzlich verteilte Geschenke durch die Finanzminister an die Bevölkerung, sondern die enorm teuren Bankenrettungspakete, die zur Stabilisierung des Finanzsektors geschnürt wurden. Sie fast allein haben zum Schuldenanstieg geführt. Ironischerweise sind es jetzt die Finanzmärkte, die sich über die Konsequenzen ihrer Rettung für die Staatsbudgets sorgen machen. Und um diese Sorgen der Finanzmärkte zu zerstreuen, führen die Regierungen eine schärfere wechselseitige Überwachung ihrer eigenen Haushaltspolitik ein.

Die Exportweltmeisterschaft

Neben der Begrenzung von Budgetspielräumen zielt die „engere wirtschaftspolitische Zusammenarbeit“ auch auf Maßnahmen zur „Prävention und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte“. Damit wird eine Blindstelle korrigiert, die die Regeln für Euro und Binnenmarkt bisher aufwiesen, und die für die missliebige Situation von Griechenland und anderen Staaten der südlichen EU-Peripherie verantwortlich gemacht werden: Vor allem Deutschland, und in seinem Windschatten Staaten wie Österreich, müllten den Süden Europas jahrelang mit ihren Exporten zu. Bei den deutschen Arbeitskräften setzte man extreme Bescheidenheit bei der Lohnentwicklung durch, deshalb wurden die deutschen Waren auf den Auslandsmärkten immer günstiger. Die anderen Anbieter wurden regelrecht niederkonkurriert – gleichzeitig wollte man natürlich jemand haben, der diese Exporte kauft. Bescheidene Exporteinnahmen und wachsende Ausgaben für Importe aus Deutschland und anderswo finanzierten die Südländer mit Krediten aus eben jenen Exportländern. Für dieses Lückenbüßerdasein als nützliche Konsumidioten müssen sie sich jetzt von deutschen Professoren sagen lassen, dort sei „mit deutschem Geld Party gemacht“ worden.

Angesichts der angehäuften Schuldenberge über all die Jahre ist jetzt klar, dass die Exportländer auf die Dauer nicht auf schuldfinanzierte Abnehmer hoffen können. Entweder muss ein Umverteilungsmechanismus stattfinden, der den Importländern wieder Mittel zur Verfügung stellt (das wäre dann die in Deutschland gefürchtete „Transferunion“) oder die Banken in Deutschland und anderswo können ihre Kredite in den Rauchfang schreiben. Deshalb soll nun eine EU-Überwachungsprozedur dafür sorgen, dass es zu so einer Auseinanderentwicklung – hier Exportweltmeister, dort verschuldete Importeur-Länder – nicht mehr kommt.

Die Krux ist freilich, welche Antwort in so einem Fall in Zukunft gefunden bzw. vorgeschrieben wird: Müssen Exportländer sich anpassen, und durch stärkere Lohnerhöhungen für zahlungskräftigere AbnehmerInnen im eigenen Land sorgen? Oder werden die ins Hintertreffen geratenen Länder gezwungen, den Gürtel enger zu schnallen?

Wo ist mein Rettungsschirm?

solidether

Wo bleibt mein Rettungsschirm?

Aus vielleicht etwas kurzsichtigem Eigeninteresse machen die Deutschen Druck auf zweitere Variante und haben mit dem „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ eine ganze Wunschliste von weiteren Klemmen vorgelegt, die sich der Süden umschnallen soll: Rente mit 67, Lohnzurückhaltung, „Schuldenbremse“ wie in Deutschland etc. Es gibt einige Staaten, die sich dagegen wehren, doch Deutschland hat gute Karten in den Verhandlungen: Das Land ist Hauptgeldgeber des EU-„Rettungsschirms“, der überschuldete Importländer mit staatlichen Krediten noch ein paar weitere Jahre zahlungsfähig halten soll. Seine Zustimmung zur Aufstockung des Rettungsschirms macht Deutschlands Regierung davon abhängig, wie viel von den vorgeschlagenen Reformen sie in der EU durchsetzen kann.

Meinte man bei Ausbruch der Krise vereinzelt noch, der Neoliberalismus stehe unter Druck, zeigt sich nun, dass die durch die Bankenrettungen verursachte Staatsschuldenkrise als Chance genutzt wird, um neoliberale Reformen weiter voranzutreiben. Emanzipatorischen Kräften, die Druck auf staatliches Handeln ausüben, können bald weitere EU-Paragrafen als „Sachzwang aus Brüssel“ entgegengehalten werden.