Erstellt am: 23. 3. 2011 - 12:27 Uhr
Hell ist die Nacht
„Die Lindenwirtin vom Donaustrand, vom Donaustrand“, singt Senta Berger eine Zeile aus einem der ersten österreichischen Filme, in denen sie mitgespielt hat. „So war auch der Film“, kommentiert die Grande Dame mit herrlich trockener Ironie. Am Eröffnungsabend des Festivals des österreichischen Films wurde Senta Berger mit dem Großen Schauspielpreis der Diagonale gewürdigt. Gerne hätte sie hierzulande mehr gedreht und anspruchsvollere Rollen übernommen, sagt Berger und erinnert an den naiv-fröhlichen Heimatfilm.
Diagonale/Klaus Pressberger
Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr widmet sich Senta Berger der Schauspielerei, diesen Mai feiert sie ihren siebzigsten Geburtstag. Das war hoffentlich nicht die Ursache für den Preis, sondern höchstens ein weiterer schöner Anlass, bemerkt sie in ihrer Dankesrede. Weibliches Filmschaffen und Digitalisierung sind die Themen, die Diagonale-Intendantin Barbara Pichler zur Begrüßung hervorhebt. Mit der zunehmenden Digitalisierung haben sich weibliche Filmschaffende selbstermächtigt. Der Anteil von Filmen von RegisseurInnen ist merkbar gestiegen.
Über die Zukunft der Kinos und die Auswirkungen der Digitalisierung auf sehenswertes Programmkino hat sich auch schon Markus Keuschnigg Gedanken gemacht.
Bereits die Eröffnung der Diagonale betont das Spektrum des österreichischen Gegenwartskinos. Was wäre ein Film ohne SchauspielerInnen? Die Ausnahme von der Regel, erklärt Filmkritikerin und Kulturjournalistin Gabriele Flossmann, die Senta Berger ihren Preis überreicht. Und so eine "Ausnahme" eröffnete die vierzehnte Diagonale: Nikolaus Geyrhalters jüngster Dokumentarfilm "Abendland", gedreht ausschließlich in der Nacht.
Stiller Beobachter
Premieren feierten seine Filme bislang im Ausland. Doch der jüngste Dokumentarfilm von Nikolaus Geyrhalter ist gerade rechtzeitig für die Diagonale und zwar, um genau zu sein, vergangenen Freitag fertig geworden, wie der Regisseur vor der Premiere verriet.
170 Stunden Material, gedreht an zwei Dutzend Orten in Europa, haben Geyrhalter und sein Cutter Wolfgang Widerhofer zu neunzig Minuten Film kompiliert. Wie bei „Unser täglich Brot“, das die Produktionsorte der Nahrungsmittel zeigt, und „7915 km“, der entlang der Rallye Paris-Dakar Menschen abseits des Rennzirkus begegnet, reihen sich die Bilder unkommentiert aneinander. Nikolaus Geyrhalters Blick gleicht jenem eines Ethnologen. Seine Kamera beobachtet, meist zentral positioniert, um das Geschehen in ruhigen Bildern umfassend einzufangen.
Eine Kamera rotiert alleine auf weitem, dunklen Felde. „Abendland“ beginnt mit einem Bild der scheinbaren Automatik. Tatsächlich bedient ein Mann einen Joystick und überwacht per Monitor eine Außengrenze der Europäischen Union. Überwachungsmechanismen, (Un-)Sicherheiten und die voranschreitende Professionalisierung von Privatem sind Themenkomplexe, die Geyrhalter in „Abendland“ streift. "Wir können so nicht reden", spricht eine Beraterin einer niederländischen Telefonseelsorge in den Hörer. "Ich kann dir keine Sicherheit bieten mit dieser Distanz". Verweilen wird sein Dokumentarfilm an keinem Ort allzu lange, Assoziationen kann man als ZuschauerIn ziehen. „Abendland“ verleitet zum Abdriften – im positiven wie auch für den Film im weniger positiven Sinn. Diagonale-Intendantin Barbara Pichler betrachtet die Doku als einen Film mit Haltung. Das kann man, wenn man selbst eine Haltung zu den gezeigten Bildern einnehmen möchte. Man muss es jedoch nicht. Geyrhalter zwingt seine ZuschauerInnen mit „Abendland“ nicht, eine Position einzunehmen.
NGF / Stadtkino Filmverleih
Abgeklärt
Grenzgebiete und Alarm auf einer Frühgeburtenstation. Ein tagender Unterausschuss des Europäischen Parlaments, ein Besuch am Oktoberfest und einer beim Papst. Polizisten bei Schießübungen und das Filmstudio einer Sexhotline. Das Abschiebezentrum mit dem Kunstrasen unter einer Schaukel und der Ausgang eines Raves, geflutet von rötlichem Scheinwerferlicht. Die Schauplätze, die sich der Produzent, Regisseur und Kameramann Geyrhalter für seine Reise durch die europäische Nacht gewählt hat, sind zum Gutteil bekannt. Geyrhalter zeigt sie in seiner spezifischen Bildästhetik, die eine Anteilnahme am Geschehen außen vor lässt.
Die Steady-Cam heftet sich dicht an eine Kellnerin am Oktoberfest, das Riesentablett mit Grillhendln jongliert sie zu Robbie Williams "Angels" durch die Menge. In einer Massenszene blickt man in und über Tausende feiernde Menschen im Bierzelt. Massenveranstaltungen empfindet Geyrhalter immer knapp am Bedenklichen, hat er kürzlich in einem Interview erklärt. Auch in "Abendland" zählen die Massenszenen zu den stärksten. In der Schlusssequenz bahnt man sich den Weg durch junge, in der Menge stehende Menschen bei einem Stadionrave. Erschöpfung in den Gesichtern, für die Kamera nehmen etliche sofort wieder Haltung an und tanzen weiter. Es ist Nacht geworden in Europa. Die Grundstimmung des "Abendlands" ist mellow, ernüchternd und abgeklärt.
NGF / Stadtkino Filmverleih
Zurückgenommen ist der Ton. Ein Grundrauschen von Maschinen dominiert, wie man des Nächtens wach in der eigenen Wohnung den Kühlschrank bis zur Unerträglichkeit brummen hört. In der Nacht konzentriert sich die Wahrnehmung auf Einzelnes. Gesprochenes wird dadurch umso prägnanter. Klar dringt eine Ansage durch die Tonspur: "Wer zum Feiern gekommen ist, sucht sich die nächste Dorfdisco. Alle anderen auf die Schienen bitte". Im Wald stehen Polizisten Schlange, jeweils zu zweit tragen sie DemonstrantInnen von den Bahngleisen. Die Proteste gegen den Atommüll-Transport durch Deutschland im Vorjahr emotionalisieren. Die Bewegung der Kamera von öffentlich zugänglichen Räumen hinter die Kulissen zeigt auch Polizisten beim Training, die Arbeit in einem Krematorium oder führt in die Montageräumlichkeiten des Eurofighters. Diese Orte hat man so noch nicht gesehen.
NGF / Stadtkino Filmverleih
Geschichten erzählt Geyrhalter in "Abendland" keine, er setzt für sie Anknüpfungspunkte. Ein Mitarbeiter von CCTV entdeckt einen Mann im Rollstuhl auf einem belebten Gehsteig in London. „Das ist ein unguter Typ und ein Drogendealer", kommentiert er mit Blick auf den Monitor, als spräche er über einen Nachbarn, dem er tagtäglich im Stiegenhaus begegnet. Umringt von Männern und Kindern schreibt ein Rom Listen: „Alle 39 Familien müssen weg. Dann kommen die Bagger erst“. Die Roma müssen die Siedlung räumen, was zurückbleibt, könnten sie entweder stehen lassen oder vernichten. In der nächsten Einstellung dampft der Boden noch vom Niederbrennen der Häuser und eine Wasserleitung sprudelt unaufhörlich. Eine Angestellte der internationalen Organisation für Migration macht sich und ihrem Klienten nichts mehr vor: "You can rather go back in dignity, as a person, or like a box of tomatoes". "Abendland" hält einen Status Quo fest.
„Abendland“ läuft ab 31. März österreichweit in den Kinos, in Grazer Kinos bereits ab 28. März.
NGF / Stadtkino Filmverleih
Into the dark
Alle, die das Kino lieben, wie Diagonale-Intendantin Barbara Pichler so schön sagt, wird heute die Sonne in Graz blenden. Wenn wir aus den dunklen Kinosälen ins Freie drängen und zur nächsten Vorführung eilen.
Nachmittags könnte man zum Beispiel österreichischen Animationsfilm sehen oder Ludwig Wüsts "Tape End", das sich mein Kollege Markus Keuschnigg ansehen wird. Abends könnte man in den nächsten Dokumentarfilm gehen, in dem die Nacht insgeheim die Hauptrolle spielt: in Farben einer langen Nacht" wird es ganz schön creepy in einem grönländischen Dorf.