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Andreas Gstettner-Brugger

Vertieft sich gern in elektronische Popmusik, Indiegeschrammel, gute Bücher und österreichische Musik.

23. 3. 2011 - 14:01

Build A Rocket Boys!

Ein nostalgischer Blick in die Vergangenheit, in die euphorischen Zeiten des Erfolgs. Das neue, epische Werk von Elbow, dem ewigen und ehemaligen Geheimtipp aus Manchester.

"The birds are the keepers of the secrets..."

Ein alter Mann sitzt auf einer verwitterten Parkbank am St. Ann's Square. Über sich hört er ein unruhiges Flattern. Als er in den Himmel blickt, sieht er einen Schwarm von Vögeln aufgescheucht in einem großen Bogen nordwärts auf die Manchester Cathedral zufliegen, und schon ist es wieder da. Das schmerzende Gefühl einer längst vergangenen, gescheiterten Liebesbeziehung. Er fragt sich, ob in den kleinen, rasenden Herzen der Vögel das Geheimnis seiner damaligen Begierde gut aufgehoben ist. Sie sind die einzigen Zeugen der letzten Küsse und der alte Mann stellt sich gerne vor, dass sie das Wissen in sich tragen, wie diese Beziehung wohl weitergegangen wäre.

Elbow-Sänger Guy Garvey erzählt diese tief melancholische Geschichte gleich zu Beginn des neuen Albums, verpackt in einer sanften, groovigen, swingenden, achtminütigen Ballade, die gegen Ende hin mit überbordenden Synthie-Streichern und 1980er Jahre Keyboardsound zu einer klanglich befremdenden und seltsam sentimentalen Hymne wird. Ein mutiger und - wie von Elbow nicht anders zu erwarten - eigenwilliger Einstieg in ein Werk, das dem erfolgreichsten Album einer Band nachfolgt, die als ewiger Geheimtipp galt.

Die Geschichte Elbows zum Nachlesen:

Bandfoto Elbow

Andy Whitton

Elbows lippy kids and a damaged organ

Was an dem neuen Elbow-Werk "Build A Rocket Boys!" sofort auffällt, ist einerseits die extreme Reduktion und andererseits die loopartigen Songstrukturen, bei denen eine Soundschicht auf die nächste aufgetragen wird. Zusammen ergibt das einen hypnotischen Sog, der sich mit jeder Minute langsam verstärkt. Ohne große, musikalische Geste werden traurige Melodien und sehnsuchtserzeugende Harmoniewechsel ineinander verwoben, wird jedem einzelnen Tonverlauf der gebührende Platz eingeräumt. Dabei sind zwei "Neuerungen" an der musikalischen Grundstimmung maßgeblich beteiligt.

Zum Einen ist es die Zusammenarbeit mit The Hallé Youth Choir, mit dem Elbow auch schon für ein Festival viele ihrer älteren Songs live präsentiert haben. Die Verbindung zu dem Chor aus Manchester geht aber noch weiter zurück, schließlich hat, als Guy noch ein Kind war, sein Großvater ihn zu Auftritten des Hallé Youth Choir mitgenommen. Im zweiten Song "Lippy Kids", übersetzbar mit "die goscherten Kinder" (Robert Rotifer), wärmt der summende Backgroundchor wirklich das Herz. Vor allem wenn man weiß, dass diese Nummer Guy Garveys Apell an die heutige Elterngeneration ist, der von den englischen Medien oft als gefährlich vorverurteilten Jugend den nötigen Respekt entgegenzubringen.

Zum Anderen beeinflusste Guys Kauf einer alten, analogen und vor allem komplett kaputten Orgel in einem Second-Hand-Laden den Sound der neuen Elbow-Platte. Ein befreundeter "Keyboardflüsterer", wie ihn Guy nennt, und über 300 englische Pfund waren nötig, um den eiernden Sound, der permanent aus den Boxen kam, auch wenn man keine einzige Taste berührte, wieder in den schönen, warmen und ganz eigenen Klang zu verwandeln. Nicht nur "Lippy Kids" fängt mit den hüpfenden Tönen dieser Orgel an, auch die Ballade "The Night Will Always Win" wird von dem 1980er Jahre Sound bestimmt. Vielleicht erklärt das auch, warum die etwas rockigeren Songs wie "Neat little Rows" oder das straight dahingroovende "High Ideals" einen Krautrock-Einschlag aufweisen und sich das Wort psychedelic immer wieder im Kopf festsetzt. Wobei selbst diese Verzweigungen, die an verschrobene und lärmige Ausbrüche denken lassen, sehr behutsam eingeführt werden und extrem kontrolliert erscheinen.

Nichts wird hier dem Zufall überlassen. Jeder Ton, den Produzent und Keyboarder Craig Potter in den mittlerweile legendären Blueprint Studios in Salford/Macnhester aufgenommen hat, besitzt nicht nur seine Wichtigkeit, sondern hat auch eine ganz spezifische Funktion. Nämlich den sehr knöchernen Songs die nötige, emotionale Tiefe zu verleihen.

Through the kitchen window

Elbow Albumcover "Build A Rocket Boys!"

Elbow

Das neue Album Build A Rocket Boys! ist in England am 7. März 2011 veröffentlicht worden und kommt in Deutschland / Österreich am 14. April in die Läden.

Einen Nachfolger für das mit dem Mercury Prize ausgezeichnete Album "The Seldom Seen Kid" aufzunehmen, gestaltete sich für das englische Quintett leichter als angenommen. Während die Orchester-Version des Albums, die in den Abbey Road Studios aufgenommen wurde, im Fernsehen ausgestrahlt wird, sitzen Guy, Pete, Richard und Mark auf der schottischen Isle Of Mull und schreiben noch immer im Rausch ihres Erfolgs neues Material. Textlich kann es bei "Build A Rocket Boys!" nicht mehr um die innere Zerrissenheit, das auf ewig gebrochene Herz sowie die Misserfolge und daraus resultierende Frustration gehen. Auch der schmerzende Verlust eines guten Freundes, dem "The Seldom Seen Kid" gewidmet war, steht nicht im Vordergrund. Vielmehr hat Guy die Gunst der Stunde dazu genützt, mit dem heutigen Wissen in die Vergangenheit zurückzublicken, als er als Jugendlicher in Manchester davon träumte, mit seiner Band auf den großen Bühnen der Welt zu stehen.

So wird "Jesus Was A Rohdale Girl", das nur mit akustischer Gitarre, sanften Bassdrum-Schlägen und vorsichtigen, kleinen Keyboardmelodien auskommt, die inhaltliche Blaupause für das gesamte Album. Darin beschreibt Guy das heruntergekommene Haus, in dem er mit einem Freund gewohnt hat, durch dessen Ritzen die nordenglische Kälte herein kroch und deshalb die Vorder- und Hintertüre im Winter immer fest verschlossen blieben. Zutritt verschaffte man sich durch das Küchenfenster, was neben den ausstehenden Mieten den Landlord zusätzlich verärgerte. Das "Rochdale Girl" ist übrigens das Mädchen, das an vielen Partyabenden vorbeikam, Essen mitbrachte und in Guy verliebt war, was er wiederum überhaupt nicht glauben konnte. Dieses Mädchen und seine Musiksammlung, bestehend aus 45 CDs, haben damals Guy vor der jugendlichen Verzweiflung gerettet.

With open arms

Tipp:
Ein exklusives Interview mit Elbow Sänger Guy Garvey und Bassist Pete Turner sowie neue Songs au dem Album "Build A Rocket Boys!" könnt ihr heute, Mittwoch, in der FM4 Homebase ab 19 Uhr hören.

Das Erstaunliche an der Musik von Elbow ist, dass sie auf großen Bühnen vor Zehntausenden Menschen funktioniert und beim Hören zugleich wie ein sehr intimer Austausch zwischen alten Freunden wirkt. "Build A Rocket Boys!" ist musikalisch nicht unbedingt der größte Wurf der Engländer, aber es ist das persönlichste und ungeschminkteste Album des Quintetts. Darüber hinaus ist "Build A Rocket Boys!" die Aufforderung an uns, unsere Träume nicht zu vergessen und zu versuchen, sie Schritt für Schritt zu verwirklichen. Und mit dem wundervollen Abschlusssong "Dear Friends" verbeugen sich die fünf Mancunians dankbar vor ihren Familien, Freunden und Fans. Bleibt nur noch, Guy Garvey und seiner Band für ein weiteres, großartiges und berührendes Album zu danken.