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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

22. 3. 2011 - 17:32

Journal 2011. Eintrag 61.

Was heißt das eigentlich genau: "in Würde altern"?

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und zuletzt 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag als Anregungs- und Denkfutter, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich das ganze Jahr über Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit dem, was von einem Abend, der aus eigentlich kostbarem Treibgut bestand, das aus diversen musikalischen Welten angespült wurde, überblieb.

File under: Cruise, Julee. Powers, Kid Congo. Hacke, Alexander. De Picciotto, Danielle. Hughes, Chris. Khan und Burn Baby Burn. Lynch, David und Twin Peaks.

Wenn eine Figur aus deiner popkulturellen Vergangenheit in die Stadt kommt und du in der Mottenkiste deiner Erinnerung kramen musst, um die alten Gefühle wiederherzustellen, die sie mitverursacht hat, dann ist es von deren Intensität abhängig, ob du dich aufmachen wirst, diese Figur heute, Jahre später wieder anzusehen. Von der damaligen Intensität wohlgemerkt - und dem, was sie heute noch auslöst.

Im Fall des Montag-Abend-Programms des Wiener Fluc fiel die Entscheidung vergleichsweise leicht. Es waren nämlich gleich mehrere solche Figuren, die sich zu einem seltsamen Bündel geschnürt auf eine Roadshow begeben hatten.

Der Intensitäts-Faktor dieser Revue Burn Baby Burn war also hoch - ebenso wie der Angst-Faktor. Dass nämlich in die Jahre gekommene Artisten, die den Zeitpunkt verpasst haben, sich in geziemlichere Bereiche als die der Bühne zurückzuziehen, und sich zum Narren machen wie ein zu rundlich gewordenener Kicker, ein nur noch krächzender Sänger oder ein selbstverknallter Mandatar.

Und diese Gefahr bestand. Deutlich.
David Lynch, der Mann, der über diesem Fluc-Abend (der im Zeichen von Twin Peaks stand) schwebte, etwa, der hat diese dünne Linie deutlich übertreten. Auch durch seinen zur Grimasse gefrorenen Sektenbeitritts-Irrsinn bei transzendentalen Meditierern - mehr aber noch wegen seiner wieder deutlich an Studentenfilme erinnernde Werke wie "Inland Empire".

Lynchs großmeisterliche Phase (85-02) enthielt mit Twin Peaks die stilprägende Ikone von TV-Serie (in deren dramaturgischem Fahrwasser letztlich alle X-Files und True Bloods heute noch schwimmen).

Burn Baby Burn

Und Julee Cruise war die Vokalistin des ebenso stilprägenden Soundtracks von Angelo Badalamenti, samt Rolle als Sängerin im Roadhouse. In die Julee-Cruise-Stücke projizierte eine ganze Generation die klassisch gewordenen Twin Peaks Mädchen-Frauen, Sherilyn Fenn, Lara Flynn Boyle, Sheryl Lee und Mädchen Amick.

Mit Julee Cruises Namen verkauft Burn Baby Burn seine Tickets - wenn auch die anderen Teilnehmer Stars sind. Khan ist eine Dancefloor-Produzenten-Legende. Kid Congo Powers als Sidemen von Nick Cave, als Mitglied des Gun Club oder der Cramps eine Legende, ebenso wie Einstürzende-Neubauten-Urgestein Alex Hacke. Danielle
De Picciotto, seine Ehefrau, ist absurderweise die Co-Erfinderin der Loveparade und selbst der Drummer, Chris Hughes, hat mit seinem Engagement bei Hugo Race & the True Spirit eine erstklassige Rock-Visitkarte abzugeben.

Sechs Figuren, die nicht unterschiedlicher sein könnten (die sphärische, entrückt-engelhafte Sängerin; der männermodel-schicke Derwisch Khan; der mexikanische Gitarrero Kid Congo; der deutsche Dekonstrukteur Hacke; der australische Hutträger Hughes; die burlesque Medicine-Show-Akteurin De Picciotto) tauchen gemeinsam im Roadhouse, ich meine natürlich im Fluc, in der Wanne, auf. Oben, im Cafe, wo geschickterweise zeitgleich fünf heimische Akteure an ihren Hommagen strickten, gab es tatsächlich Cherry Pie.

Mysterylos im Twin-Peaks-Themenpark

Natürlich geht das schief. Natürlich machen sie sich zum Narren. Natürlich kann die alte Intensität nur noch in ironischen Ansätzen erreicht werden.

Julee Cruise, im bleich wächsernden Gesichtssarg der späten Ingrid Steeger gefangen, kichert sich posenreich durch den Abend, selbst "Falling", die Titelnummer von Twin Peaks, enthält keinerlei Mystery mehr.
Kid Congo, der Mann, der für den Gun Club, die damals beste Band der Welt, das verzweifelte For the Love of Ivy schrieb und auf Bad America die Slide-Gitarre so tief in die amerikanische Seele bohrte wie vielleicht niemand mehr nach ihm, begnügte sich mit Begleit-Akkorden und einer ironischen Disco-Gegenwart.

Gut, Kid Congo tut das als befreiter Mensch, als openly gay man, etwas, was in seiner wilden Rocker-Vergangenheit nicht möglich war. Rocker sind nicht schwul, genau wie Fußballer; Mexikaner schon gar nicht.
Und auch schwule Türken gibt es nicht, oder?
Khan, der lange DJ- und Producer-Lackel, der Diamanda Galas und Jon Spencer zähmen konnte, Türke aus Frankfurt, ist sicher die einzige Ausnahme. Khan hing als einer der zentralen Namen auf einem wirklich schönen Plakat in der Wohnung einer Ex-Freundin von mir, Ende der 90er, und sie war verzückt, wenn er in die Stadt oder die Nähe der Stadt kam. Ich habe ihn zwar einmal gesehen, im Nachfolge-Club zum Icke Micke, im Wiener Donaupark, aber ich kann mich nicht erinnern, nur das Plakat sehe ich deutlich vor mir.
Und Kid Congo, wie er links von Jeffrey Lee Pierce steht, bei der Gun Club-Tour von 1987, in der Batschkapp in Frankfurt, an einem kalten November-Abend. Er sah verloren aus, neben dem sowieso verlorenen, vom Leben völlig aufgedunsenen Jeffrey Lee. Gestern spielte er zwar höchst uninteressante Musik, aber er sah zufrieden aus, mit sich im Reinen.

Mekkanik Destruktif Kommandöh

Selbst Hacke wirkte gelöst.
Und Hacke, ich meine, ich kann Hacke nicht ausstehen. Den nicht, aber den eben auch nicht. Ich habe Hacke anno dunnemals, als die Neubauten bei uns im Studio etwas für die Musicbox aufgenommen oder gemischt haben, erlebt: als das clowneske Äffchen von Blixa, der die anderen, vor allem Mufti, aber auch Andrew und Mark, triezte - im Bewusstsein, dass er ja Blixa, die Schwerter-Zunge, als Schutzmacht hinter sich hat. Andererseits hat Hacke eine Biografie, die für sieben Leben reicht, mit MDK, Christiane F., Sprung aus den Wolken, Fatih Akın, Crime & the City Solution, Meret Becker, den Tiger Lillies und eben Danielle de Picciotto. Und das macht auch den gestern wieder aufgewärmten Eindruck, dass man es mit einem Poseur auf einem Grenadiermarsch-Hügel zu tun hat, wett.

Und überhaupt, in Würde altern - was heißt das?
Zeitlebens den Erwartungen entsprechen?
Wie sollte das denn gehen?
Julee Cruise als ewiges Engelswesen, über nebelverhauchten Sphären schwebend?
Khan als leuchtendes DJ-Fabelwesen von getriebener Ernsthaftigkeit beseelt?
Hacke als zotteliger Hausbesetzer und mechanisches Destruktiv-Kommando auf alle Zeiten?
Und Kid Congo als ewiger good Lieutenant neben dem sich in die Besinnungslosigkeit schreienden General Jeffrey Lee?

Fliegende Holländer immerdar?

Auf einen Punkt ihrer Vergangenheit reduzierte Tanzbären und -bärinnen?
Wie selbstverliebt und zynisch ist das denn? Pfui, schämen!

Also, den Abend abschütteln, das subjektiv erlebte Grauen objekti-, nein relativieren, mit der unmittelbaren Realität verknüpfen und den alten Figuren neues Leben zugestehen.

Hacke will sich eben als Wild Bill Hickok verkleiden und Americana spielen. Es muss ja auch nicht auf ewig Neubauten stürzen.
Khan will sich an finnischer Türke als Kosmopolit stilisieren, hat deshalb einen Abend lang seine deutsche Muttersprache vergessen und macht den Thomas Hermanns.
Frau Cruise lebt mit ihrem Mann, dem Chefredakteur der US-Version des "Wachturm" in New York - da wird man doch ein bisserl irre sein dürfen, oder?
Und Kid Congo Powers, der Südkalifornier mit den mexikanischen Roots, der jetzt mit Brille und Bart aussieht wie die Junior-Ausgabe von Gabriel Garcia Marquez steht das deutlich besser zu Gesicht als die heldenhafte Gitarristen-Pose der 80er.

In Würde altern heißt wohl nicht sich in die Erwartungen eines Publikums zu ergeben oder gar den einzigen Trick, für den man bekannt ist, dauervorzuführen. Peinlich aufzufallen ist wahrscheinlich auch kein Widerspruch.
In Würde altern, im Rock/Performance-Kontext heißt wohl: Ich mache, was ich will, egal ob vor hundertausend oder vor hundert Menschen.