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Sammy Khamis

Are you serious...

22. 3. 2011 - 15:39

Der Demokratie zu einer neuen Blüte verhelfen

Ägypten nach der Volksabstimmung zur Verfassung.

In Ägypten wurde am vergangenen Wochenende, fast zwei Monate nach den ersten Aufständen vom 25. Januar, über Verfassungsänderungen abgestimmt. Es sind die ersten freien Volksentscheide nach Mubarak, und wohl die ersten Wahlen, die diesen Namen verdienen. Die Aufregung war groß. Meine ganze Familie wartete gespannt auf den Tag, den man glücklich und gebannt mit einem verfärbten Finger begehen konnte. Nach und nach setzte dann die internationale Wahlchoreographie ein: Hochrechnungen, Interviews, Ausblicke und so weiter.

Mubarak-Stencil

Sammy Khamis

brennendes Gebäude und gehende Protestierende

Sammy Khamis

18 der 45 Millionen Wahlberechtigten wählten, und sie stimmten mit 77% für die Verfassungsänderungen. Somit kann im Sommer gewählt werden. Zum einen ein Präsident, der dann nicht Mubarak-like unbeschränkt wiedergewählt werden kann, zum anderen wird die Amtszeit verkürzt. Alle acht Änderungen sollen die Allmacht des Präsidenten reglementieren, das Parlament stärken und die Judikative unabhängiger machen. Innerhalb eines Jahres nach der nächsten Wahl wird eine neue Verfassung auszuarbeiten sein.

Doch wohin geht Ägypten, was kann und wird meine Familie machen, wie sieht eine Neuordnung aus altem Chaos aus, wer trägt die Altlasten des Regimes, wie werden die dringenden Probleme des Landes gelöst?

"Closed universities, open minds"

Bis heute sind die Schulen und Universitäten im Land geschlossen. Keiner weiß, wie es der ägyptischen Wirtschaft geht, weil die Börse weiterhin zu ist, und erst am 23. März, fast zwei Monate nach Schließung, wieder geöffnet wird. Der Tourismus zieht langsam wieder an, und zumindest europäische Reisende müssen sich in Ägypten keine Sorgen machen. Es gibt sowohl Sonne als auch Bier.

Menschen auf Brücke

Sammy Khamis

Tahrir-Platz, Hubschrauber, jubelnder Mann auf Ampel

Sammy Khamis

All diese kleinen Probleme nach der großen Revolution wirken nichtig in der Geschichtlichkeit des Augenblickes. Jemen, Syrien und Bahrain. Und dann ist dort immer noch der Mann, der der Grund dafür war, dass mein Vater (der lange in Libyen gearbeitet hat) damals Nordafrika verließ und der die Welt mit seinem Terror in Atem hält: Muammar al-Gaddafi.

Deutscher, Ägypter, deutschstämmiger Ägypter, stämmiger Deutsch-Ägypter?

In der letzten Zeit wurde ich oft gefragt, ob ich mich als Deutscher, als Ägypter oder beides oder als gar nichts oder als irgendwas fühle. Da ich Identitätskonstruktionen, die auf nationalstaatlichen Ideen beruhen, nie Wert beigemessen habe, fiel meine Antwort immer ausschweifend lange und fad aus. Heute kann ich zumindest sagen: Als Deutscher fühle ich mich bei solch dilettantischer Außenpolitik nicht. Wer diese UN-Resolution nicht unterstützt, ist offensichtlich gegen Selbstbestimmung, gegen Freiheit und für Gaddafi.

Gerne würde ich "unserem" Außenminister Westerwelle meinen Reisepass geben. Ihm sagen, dass ich kein Bürger eines Landes sein will, das auf Grund seiner Geschichte verpflichtet ist, bei Revolutionen, die Freiheit und Selbstbestimmung als Ziel haben, zu helfen, und es aber nicht tut. Westliche Diplomaten haben erkannt, dass sie mit historischen Chancen in Tunesien und Ägypten leichtfertig umgegangen sind, und daraus das Mandat für Libyen geformt. Deutschland enthält sich, und sieht zu. Große Teile der demokratischen Welt helfen den libyschen Aufständischen dabei, das zu erreichen, was wir als normal ansehen.

Ägypter mit Victory-Zeichen

Sammy Khamis

Gil Scott-Heron meinte einmal, dass es seit einigen Jahren nur noch die eine Jahreszeit, nämlich Winter, gäbe. Heute scheint es nicht nur klimatisch Frühling zu sein. In philosophisch-politischer Sicht ändern sich Denken und Reden über den nordafrikanisch-islamischen Raum. Der Terrorismus-Islamismus-Diskurs scheint endlich seine Relevanz zu verlieren. Das defizitäre Denken über ganze Völker scheint überzugehen in eine brüderlich empathische Diskussion über die Zukunft dieses Erdteils, für den westliche Reflexion oft nur negative Szenarien entworfen hat.

Sind Menschenrechte vielleicht doch universell, und funktioniert Demokratie auch im Nahen Osten?

Bis heute stellt sich die Frage, wie universell Menschenrechte und die Ideen von Selbstbestimmung und Demokratie sind. Allzu oft sind wir in die Falle getappt zu glauben, dass es Regionen der Welt gibt, in denen Demokratie deshalb nicht funktionieren kann, weil die Mentalität der Bevölkerung zu weit von der Essenz der Freiheit entfernt sei. Man hört alte Männer im Fernsehen von Stammeskulturen sprechen, Autorität wird höher geschätzt als in weniger hierarchischen Kulturen. Der Islam, so eine gängige These, sei mit Demokratie nicht vereinbar. Zum einen muss man sagen, dass ein entscheidendes Moment der Revolution war, dass die Al-Azhar Sheiks den Koran dahingehend auslegten, dass Herrscher wie Mubarak durchaus gestürzt werden dürfen, ein Novum, da der Koran Muslime zur Loyalität gegenüber dem Herrscher verpflichtet. Zum anderen könnten Gesellschaften, in denen das Individuum einer größeren Verantwortung der Gesellschaft gegenüber verpflichtet ist, Demokratie zu einer neuen Blüte verhelfen. In Ägypten ist Wohlstand nicht nur der Lohn harten (oder illegalen) Wirtschaftens, sondern auch Verpflichtung zum Teilen. Wer besitzt, muss teilen. Auch wer Wissen besitzt, wird es teilen, wird helfen. Besitz ist nicht auf seine monetäre Absolutheit festgesetzt.

Entwickelt sich eine demokratische Gesellschaft aus einer so engen und nachsichtigen Tradition heraus, kann sich eine neue Form des demokratischen Zusammenlebens entwickeln. Darauf lässt sich nicht nur hoffen, sondern daran kann man, können wir arbeiten.