Erstellt am: 23. 3. 2011 - 10:46 Uhr
Tschernobylchen
Ich bin ein Tschernobylkind. Geboren wurde ich im März 1986, ungefähr einen Monat vor dem Unglück in Reaktor 4 des ukrainischen Atomkraftwerks. Tage nach der Katastrophe ging meine Mutter zum ersten Mal mit mir draußen spazieren. Sie war sehr stolz auf ihren erstgeborenen Sohn und wollte mir die Welt zeigen. Genau an diesem Tag regnete es. Der radioaktive Regen tropfte auf meinen Babykopf und auf die Köpfe der bulgarischen Bevölkerung. Am ersten Mai waren Kundgebungen für den Tag der Arbeit geplant. Die Bulgaren demonstrierten für den Sieg des Kommunismus. Sie hatten keine Ahnung, was passiert war, die Regierung hattte die Explosion in Tschernobyl verschwiegen. Die Bulgaren lernten in der Schule sich vor einem atomaren Schlag der imperialistischen Westens zu fürchten. Keiner glaubte, dass der Schlag vom „friedlichen Atom“ und aus dem Osten kommen würde.
Vom Unglück im Tschernobyl erfuhren meine Eltern im Radio "Freies Europa", dessen Signal die Staatssicherheit zu ersticken versuchte. Eine Krankenschwester kam nach Hause und flüsterte leise ins Ohr meiner Mutter, sie solle keine Milch trinken und keinen frischen Salat essen. Mein Vater war zu Besuch bei einem Freund auf dem Land. Der Freund, ein Parteimitglied, wollte ihn davon überzeugen, dass „Freies Europa“ lügt, und bot ihm - frisch von radioaktivem Regen begossene - Kirschen an.
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Erst am 7. Mai 1986 erklärte zum ersten Mal ein Vertreter der Regierung im Fernsehen, dass der Strahlungswert zu sinken beginnt. Dadurch enstand in Bulgarien der folgende Witz : „Was ist radioaktive Strahlung?“ - „Etwas, das es nicht gibt, aber zu sinken beginnt.“ Das Verschweigen des Tschernobylunglücks wurde in einer Umfrage vor ein paar Jahren vom bulgarischen Fernsehen als „das größte Absurdum des 20. Jahrhundert“ eingestuft. Auf der Skala der radioaktiven Bestrahlung im ersten Jahr nach dem Unglück in Tschernobyl, belegt Bulgarien gleich Platz vier nach Ukraine, Russland und Weißrussland wegen mangelnder Information und dem Fehlen jedlicher Schutzmaßnahmen. Nach 1989 wurden zwei angeblich Verantwortliche für die Informationsverweigerung des Tschrnobylunglücks verurteilt. Der Diktator Todor Zhivkov, bei dem das letzte Wort lag, blieb aber unbestraft.
APA/Gunther Lichtenhofer
Heute plant Bulgarien den Bau eines neuen AKW im Städtchen Belene an der Donau. Zwei neue Reaktoren sollen die vor dem EU-Beitritt Bulgariens stillgelegten Blöcke des AKW Kosloduj ersetzen. Der erste soll 2014 in Betrieb gehen. Die Pläne für das AKW Belene gab es schon vor dem Fall der Mauer, deren Umsetzung wurde aber aus Geldmangel mehrmals verschoben. Zufall oder nicht - in Belene befand sich vor 1989 das größte Arbeitslager für politische Häftlinge. Die ganze Region befindet sich in einer seismisch stark aktiven Zone und im April 2009 wurde es zum letzten Mal von einem Erdbeben der Stärke 5,3 auf der Richterskala erschüttert. Laut neuesten Abkommen, die im November in Sofia unterzeichnet wurden, soll der bulgarische Staat über 51% des AKWs Belene verfügen, 47% gehören der russischen Atomgesellschaft Rosatom und jeweils 1% dem französischen Konzern „Altran“ und dem finnischen „Fortum“.
Das AKW soll mit russischen Geldern finanziert werden und soll den bulgarischen Staat keinen Cent kosten. In einem Interview sagte neulich der bulgarische Premierminister Boiko Borissov in seinem unverwechselbaren Stil über Belene: "Wenn du das Geld nicht gibst, was interessiert dich dann der Preis."
Ich hoffe nur, dass der Preis nicht höher ausfallen wird. Ich bin ein Tschernobylkind. Wenn meine Mutter sauer auf mich war, nannte sie mich manchmal „Tschernobylchen“. Ich wäre froh, wenn meinen Kindern solche Bezeichnungen erspart bleiben.