Erstellt am: 27. 3. 2011 - 14:44 Uhr
Der ewige Erzfeind
"Danach öffnete Hiob seinen Mund und verfluchte seinen Tag"
(Das Buch Hiob, Kapitel 3)
Ein schwüler Sommer, 1944. Amerika kämpft im 2. Weltkrieg, das kleine Städtchen Newark in New Jersey gegen die alljährliche Mückenplage. Der Sportlehrer Bucky Cantor schämt sich zwar, wegen seiner Kurzsichtigkeit nicht mit seinen Kameraden an der Front stehen zu dürfen, aber als gläubiger Christ nimmt man jede Aufgabe an. Hingebungsvoll kümmert sich Cantor unter der brütenden Sonne um die Kinder am Sportplatz.
Vor den Mücken und der Hitze kann Cantor die Kinder schützen, aber gegen die Polio-Epidemie ist auch er machtlos. Nach und nach werden die Kinder krank: Kopfschmerzen, Übelkeit, Fieber, Lähmung, Tod. Die Kinder stecken sich gegenseitig an: Sie hüpfen in Pfützen herum und trinken aus den selben Wasserflaschen. Nun hat der Krieg auch die Kinder eingeholt.
William Adolphe Bouguereau
Der menschliche Makel
Hanser
Rasch werden Schuldige für den unsichtbaren Feind gesucht: Zuerst sind es die herumstreunenden Katzen, dann die Juden, dann die Italiener. Am Ende beschuldigt man sogar den schmutzigen Dorftrottel, der umherirrt und allen die Hand geben möchte, nur um einer von ihnen zu sein.
Cantor versucht die Ruhe zu bewahren. Wie ein Fels in der Brandung beruhigt er die Eltern, besucht die sterbenden Kinder am Krankenbett und schlussendlich bei ihrem Begräbnis. Die Lebenden beobachtet Cantor mit Argusaugen: Er achtet darauf, dass die Kinder viel trinken, sich oft im Schatten aufhalten und sich nach jedem Körperkontakt die Hände waschen. Aber es nützt alles nichts, die Seuche greift weiter um sich.
In einem Moment wird der stoische Kämpfer dann schwach. Cantors Verlobte Marcia arbeitet im Sommercamp Indian Hill für Kinder, weit weg von Newark, weit weg von Polio. Allzu verlockend wäre es für Cantor, das verseuchte Gebiet zu verlassen, vor allem da in Indian Hill eine Stelle für einen Sportlehrer frei wird. Anfangs bleibt Cantor stur, sein Platz sei in Newark. Aber Marcia hat Angst um Cantors Gesundheit, die Versuchung ist zu groß: Cantor verlässt Newark und die sterbenden Kinder.
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Das Sommercamp Indian Hill liegt an einem großen See am Waldesrand, fern jeder Zivilisation. Für Cantor ist es ein kleines Paradies: Die Kinder lieben ihn, Marcia liebt ihn. Zum ersten Mal kein Sirenengeheul der Rettungsfahrzeuge, keine entvölkerten Straßen. Doch die Polio findet das Sommercamp: Ein Junge stirbt, mit dem Cantor noch Schwimmen geübt hat. In diesem Moment ist Cantor dem Zusammenbruch nahe. Es ist für ihn unerklärlich, wie Gott es zulassen kann, dass diese Kinder sterben. Wie kann diese Krankheit, dieser Teufel, die Kinder immer wieder finden?
Die Antwort darauf liegt näher, als er denkt.
Demütigung
US-Starautor Philip Roth, 78, vollendet mit "Nemesis" seinen Erzählzyklus über die Hilflosigkeit des menschlichen Daseins angesichts göttlicher Entscheidungsgewalt. Roths "Geschichten vom Untergang" handeln alle vom Sterben, Altern, Krankheit, Unglück und Schuld. In "Nemesis" steht schon wie in "Jedermann", "Empörung" und "Demütigung" die Frage nach der Gottverlassenheit im Zentrum, mit der sich Roth, bekennender Atheist, schon seit Jahren in seinem Spätwerk literarisch auseinandersetzt.
Bucky Cantor ist eine Art moderner Hiob, der in einem einzigen Moment der Schwäche, Gott erzürnt und dafür den Rest seines Lebens büßen muss. Nemesis ist einerseits die Bezeichung für einen Erzfeind, andererseits ist es die Göttin der Rache, die Cantor bestraft, wie vor ihn in der Antike die Erinyen den Orestes, weil er eigensinnig seinen Posten bei den Kindern in Newark verlassen hat. Denn Cantor kommt von "Kantor", dem Chorleiter im Gottesdienst, also jene Rolle, die Cantor stellvertretend bei den Kindern in Newark eingenommen hat.
Douglas Healey
Die Strafe, die Cantor dafür erleiden muss, legt er sich praktisch selbst auf. Ähnlich einer Figur Shakespeares rächt er sich für seine Tat an sich selbst: Die Strafe für seinen Fehler ist sein ewiges Leid. An einer Stelle des Romans trifft Arnold Mesnikoff, ein ehemaliger Schüler Cantors und lange Zeit der anonyme Erzähler in "Nemesis", seinen alten Sportlehrer wieder. Cantor ist inzwischen von Selbsthass zerfressen und innerlich und äußerlich verstümmelt.
Newark, Geburtsort Roths und Schauplatz vieler seiner Romane, wird hier zum Kriegsschauplatz einer fiktionalen Polio-Epidemie. Während der Krieg eigentlich woanders wütet, ist selbst der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt vor der Krankheit nicht sicher. Doch während es sich dieser leisten kann, die Forschung nach einem Impfstoff zu fördern, muss Bucky Cantor dem unsichtbaren Erzfeind Polio allein gegenüberstehen. Je länger der Roman dauert, umso mehr wird Cantor aber zu seinem eigenen Erzfeind, die menschliche Schwäche führt zum menschlichen Untergang. Philip Roth lässt die Angst vor der Krankheit über den Glauben siegen, beschreibt aber diesen Untergang so präzise und einfühlsam, dass man am Ende vor seinem eigenen Spiegelbild erschrickt.
Weitere Leseempfehlungen:
Die Selbstpeinigung des Sportlehrers ist das Resultat eines von einer höheren Instanz ausgesprochenen Urteils, und erinnert deshalb ein wenig an Kafkas gleichnamige Erzählung. Doch obwohl in "Nemesis" Gott diese höhere Instanz ist, hinterfragt Philip Roth sowohl den Gottesbegriff, als auch die harte Strafe, die Cantor von diesem akzeptiert.
"Not everyone can carry the weight of the world" heißt es dazu einmal in einem Song. Manche versuchen es trotzdem.