Erstellt am: 20. 3. 2011 - 23:00 Uhr
Mode und Verzweiflung
Thomas Edlinger rezensiert Michel Houellebecqs neuesten Roman "Karte und Gebiet" am Montag, 21.3. in der FM4 Homebase ab 19 Uhr
Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges meinte einmal, er wünsche sich eine Karte, die sie so groß sei wie das Gebiet, das sie darstelle. Erst dann wäre die Abbildung genau genug. Michel Houellebecqs neuer Roman trägt diese Beziehung ebenfalls im Titel. "Karte und Gebiet" erzählt von einem Fotografen, dem der Funke der Intuition einfährt und zum Konzeptkünstler mutiert, der mit abfotografierten Michelin-Karten Frankreichs zum Galerien-Darling wird. Die Karten aus allen Ecken Frankreichs treffen einen Nerv. Nicht zuletzt deshalb, weil ein sich zusehends zum Erlebnispark für reiche Ausländer wandelndes Frankreich Halt in einem nostalgischen Regionalismus sucht, der nach lokalen Küchenrezepten und alten Bauerntänzen, nach blühendem Handwerk statt postindustrieller Verödung duftet.
Der warholoide Künstlerstar Jed Martin interpretiert auf seiner bahnbrechenden Vernissage das Verhältnis von Karte und Gebiet, aber ganz anders als Borges schreibt er über zwei Kartenfotografien: "Die Karte ist interessanter als das Gebiet". Man könnte vielleicht auch übersetzen: Die Darstellung der Welt ist interessanter als die Welt.
Michel Houellebecq - "Karte und Gebiet"
Viel ist in den letzten Tagen über den neuen Houellebecq geschrieben worden. Der alte Houellebecq, das war der personifizierte PC-Schreck, stets gut für skandaltaugliche Ausfälle gegen Frauen und Muslime. Verbittert von den Härten der von ihm diagnostizierten Herrschaft der sexuellen Marktwirtschaft, gepanzert mit schweren Depressionen, ausgestelltem Alkoholismus und melancholisch eingefärbtem Zynismus. Ein verlässliches Ekelpaket, das viel über das Sterben nachdachte und sich in all seiner teils hellsichtigen Trauer über den Zustand der Welt einen Spaß daraus machte, der 68er Generation ins Grab nachzuspucken.
Dumont Verlag
Der neue Houellebecq ist hingegen einer, der von der Kritik in Frankreich, und nicht nur dort, fast totgelobt wurde und für "Karte und Gebiet" endlich auch den prestigeträchtigen Literaturpreis Prix Goncourt abgestaubt hat. Der ehemalige Provokationskünstler, liest man immer wieder, sei altersmilde, ja möglicherweise sogar weise geworden. Und das, obwohl in diesem Roman am Ende ein einsiedlerischer, über Sozialutopien nachdenkender Schriftstellerstar namens Michel Houellebecq, von dem der ihm in mancher Hinsicht als Alter Ego zur Seite gestellte Jed ein Porträt auf Augenhöhe anfertigt, grausam ermordet und zerstückelt wird.
Die Gründe für diese Neueinschätzung des literarischen Vermögens liegen wohl nicht nur in der gemäßigten, ja geradezu gesitteten Art und Weise, in der die Tonlagen zu einer Satire auf die Gegenwart abgeschmeckt werden. Die von Houellebecq schon gewohnten Auslassungen, hier über das Versagen der modernen Stadtplanung, das Verschwinden gesellschaftlicher Visionen, die Hohlheit intellektueller Phrasendrescherei, die Verlogenheit der (gut verkaufbaren) Frankreichklischees oder den nichtswürdigen Scharlatan Picasso paaren sich mit wohldosierter Häme über die Taschenspielertricks der zeitgenössischen Kunst. Die macht, ähnlich wie schon in Flauberts Analyse des 19. Jahrhunderts, am Tag auf einen auf Intellekt und Konzept und liegt in der Nacht mit dem Markt im Bett liegt; ein Schelm, wer da auch an die Literatur denkt.
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Dieser gut ausstaffierte und diesmal nicht allzu dick aufgetragene Kulturpessimismus trifft aber - im Unterschied zu etwa "Elementarteilchen" - auf eine Erzählhaltung, deren Weltschmerz bzw. Weltekel durch den Modus der Ironie abgefedert erscheint. Wenn etwa im Roman die Figur Houellebecq (der vom Erzähler in offenbar bewusst ermüdender Variationslosigkeit gern als "der Autor von Buch X" bezeichnet wird) im Dialog mit Jed zugibt, dass er sich selbst als fußpilzzerfressener Säufer persifliert, dann sind wir gefangen im postmodernen, alles relativierenden Spiel des Als-Ob.
Houellebecq hält also in der Schwebe, welche Sätze wem gehören bzw. wer was wie ernst meint. Und er macht seine Ironie stellenweise auch mehr als kenntlich - das immunisiert gegen Plattheitsvorwürfe, das macht Misanthropie und Larmoyanz erträglich. Dort, wo es am nüchternsten wird, in den akribischen Beschreibungen von Autos oder Speisen zum Beispiel, ist aber wohl der meiste Hohn über die Leere spätkapitalistischer Glücksversprechungen verborgen.
Mit "Karte und Gebiet" ist dem Autor we love to hate jedenfalls ein vielschichtiger Roman gelungen, der zwischen subtilen und anrührenden Beobachtungen zur Verfehltheit von Liebes- und Vaterbeziehungen und einer fast soziologisch anmutenden, teils scharfsichtigen Gegenwartsdiagnose über eine orientierungslose, postfamiliäre Gesellschaft changiert. Auch das Zurück, ein Leben mit rosa Backen im Kerzenschein des Bauerntisches, hält Houellebecq selbstverständlich für versperrt und bedenkt es mit spöttischen Zitaten aus sich selbst entlarvenden Slogans der Tourismusindustrie.
Welche Rolle in der Erschließung dieser "Gebiets" die Kunst bzw. die Literatur , also die "Karte" heute noch spielen kann, ist fraglich. Vielleicht ist alles zu viel für sie. Vielleicht müsste die Karte so genau sein wie das Gebiet. Der Künstler Jed Martin will jedenfalls nach dem Porträt Houellebecqs kein Bild mehr malen und fragt sich, "was ihn dazu veranlasst hatte, sich auf eine künstlerische Darstellung der Welt einzulassen oder zu glauben, dass eine künstlerische Darstellung der Welt überhaupt möglich sei; die Welt war alles andere als ein Gegenstand künstlerischer Emotionen, die Welt stellte sich eindeutig als ein rationaler Bezugsrahmen ohne jegliche Magie und ohne besondere Interessen dar."