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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

19. 3. 2011 - 21:21

Journal 2011. Eintrag 59.

The Progress Paradox. Und die entsprechenden Manipulations-Techniken.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und zuletzt 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag als Anregungs- und Denkfutter, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich das ganze Jahr über Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit einem nachgegangenem Hinweis, zwei Fundstücken und der Erkenntnis dass sich seit 2008 eigentlich nichts bewegt hat.

Wenn dir jemand, den du aus einem halben Mailverkehr kaum kennst, nebenbei einen Link zu einer Geschichte aus dem Jahr 2008 schickt, die sich hauptsächlich mit einem Text aus dem Jahr 2003 beschäftigt und noch dazu etwa neun Meter lang ist und du eigentlich gar keine Zeit fürs Lesen hast - was machst du?

Wenn du wie ich die selbstgestellte Aufgabe einen täglichen Text zu verfassen, der einen über das Augenfällige hinausgehenden Nährwert haben soll, zu erfüllen trachtest, dann beschäftigst du dich wahrscheinlich extra genau damit - auch weil die Aktualität gestern schon komprimiert dran war.

Schuld ist also ein Thomas und sein Link in eine alte Ausgabe eines deutschen Magazins mit langen und denklastigen Aufsätzen, dem Merkur, Untertitel "Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken". Der Autor Jörg Lau (sonst Die Zeit und so) stellt sich da die Frage wo vorne ist, was Fortschritt bedeutet und tut das so aktuell, dass ich erst recht spät dahinterkomme, dass der Text (Risikoreligion und Zukunftsneid -Wer marschiert eigentlich noch an der Spitze des Fortschritts?) schon drei Jahre alt ist.

Das gruselige Phänomen des Fortschrittsparadox...

Das Thema interessiert mich, nicht erst seit Februar als ich es letztmalig angesprochen habe und Lau zieht mich rein.

Auch weil er einen Trick verwendet, den einmal jemand vom New Yorker als für Zeitschriften dieser Art unverzichtbar erklärt hat: immer mit einem historischen Beispiel einsteigen, das macht a) unangreifbar, blufft b) die Redakteure weg und verleiht c) die Aura von Weisheit.

Lau nimmt den winterreisenden Heinrich Heine und die im selben Jahr erfolgte Gründung des Economist her, aber darum geht es in weiterer Folge dann nicht; sondern um die zentrale These von Gregg Easterbrook in seinem Buch "The Progress Paradox. How Life Gets Better While People Feel Worse" also, dem Fortschrittsparadox: "Die Menschen fühlen sich schlechter, obwohl sie ein besseres Leben führen."

Klar, mit dem Wohlstand, mit verstärktem Besitz, nehmen Angst und Pessimismus zu. Lau verstärkt Easterbrook, indem er andere Paradoxe zusammenklaubt. Dass die Neigung von Menschen Angehörige von Minderheiten eher Übeltaten zuzutrauen mit der Zunahme von Wohlstand steigt.

... sich trotz besseren Lebens schlechter fühlen

Die Ursache für das Paradox ist auch paradox: wenn die Menschen ihre Situation nicht nach dem Stand der Dinge, sondern auf Grundlage ihrer Erwartungen beurteilen, dann kann sich weder Zufriedenheit noch Glück einstellen.
Nach den Aufbruchsjahren des "meinen Kindern soll es einmal besser gehen", muss also nachgerade der Backlash folgen. Da "besser" sich im 21. Jahrhundert nicht mehr in Kalorientabellen oder Vermögenswerten bemessen lassen will, wird das Streben danach zur Suche nach dem heiligen Gral.

Der von Lau noch als "Zusammenbruchs-Angst" benannten Panik folgt die heute grassierende Angst vor dem sozialen Abstieg, die sich ja quer durch alle Zivilisationen (vom Westen bis weit über die Schwellenländer hinaus) zieht. Die Angst vorm Abstieg ist auch deswegen so krass, weil der sofortige Wiederaufstieg von fast allen als unmöglich angesehen wird - man fürchtet die Abwärts-Spirale, ein komlplettes Nach-unten-Durchgereicht-werden.

Die Entkopplung von Wohlstand und Wohlgefühl

All das nagt am Selbstbild, am Selbstwert, an der Selbstbestätigung. Und weil der Mensch sich ja seit jeher tendenziell an seiner Außenwirkung berauscht und hochzieht, ist die kollektive durch die diversen Ängste befeuerte schlechte Laune umso kontraproduktiver.

Lau spricht vom Fluch der "Entkopplung von Wohlstand und Wohlgefühl" und spottet über das Zelebrieren eines Unglücks, das - im weltweiten Vergleich - immer noch Schlägen mit einem Wattebausch entspricht und driftet dann in Diskurse zur Risikogesellschaft und der Kultur der Angst ab.

Ich bin anderswo abgebogen. Ein paar Minuten bevor ich von Thomas den Lau-Link bekommen habe, konnte ich mich nicht beherrschen, in einem wahrlich zynischen Buch zum Thema manipulative Rhetorik (ich gebe bewusst keine Titel/Daten an, um keine Werbung zu machen) zu blättern. Da stehen im Kapitel Unterkapitel "Den Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe stärken" vier Techniken. Feindbilder entwerfen; Gerüchte einsetzen; Predigen; Sündeböcke suchen.

Die Kunst der skrupellosen Manipulation

Die politische Praxis, auch die deutsche, aber natürlich genauso die österreichische, hat diese beiden Dinge zusammen gezählt. Wie mit dem mangelnden Selbstwert, den Zukunfts-Ängsten, dem Sich-Schlechter-Fühlen-Paradox einer Gruppe umgehen? Vor allem dann, wenn die Gruppe mittlerweile die Größe von ganz Österreich hat.

Je stärker die Schere zwischen sozialer Realität und gefühlter Befindlichkeit wird, je weinerlicher sie in ihrer Lachhaftigkeit zelebriert wird, desto stärker setzen die Verteidigungs-Mechanismen ein - und desto besser funktionieren die Bestätigungs-Tricks, desto besser klappt die Instrumentalisierung, desto schwerer sind die diversen Papiertiger (die Feindbilder, die Sündenböcke) wegzukriegen.

Dass sich die politischen Verantwortungsträger in ihrer Praxis so stark und fast ausschließlich an zynischen Manipulations-Ratgebern orientieren, zeigt mir, dass sie selber keinen Ausweg mehr sehen und sich letztlich auch in den Progress Paradox ergeben haben, der ihre Kaste seit Jahren fest im Würgegriff hat.