Erstellt am: 14. 3. 2011 - 19:16 Uhr
Journal 2011. Eintrag 56.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und zuletzt 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag als Anregungs- und Denkfutter, Fußball-Journal '11 inklusive.
Zumeist werden sich hier Geschichten/Analysen finden, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit einem Nachruf auf den deutschen Sozialwissenschaftler Günter Amendt, der am Wochenende Opfer eines Verkehrsunfalls wurde.
Amendt war wortgewaltiger und furchtloser Sexual-Aufklärer, radikaler Anwalt einer anderen Drogen-Politik und führender deutscher Dylan-Experte.
Es war letzten Dezember in der heiligen Stadt Köln, es war bei einer Durchquerung der City aus dem hübschen kleinen Viertel hinten von der Hahnentorburg hinein zum Dom, also zum Bahnhof, der einen direkt in seinen Schoß spuckt.
Es hatte Nieselwetter, König Poldi führte die Seinen gerade in die Schlacht mit dem hessischen Rivalen und wir zogen durch die Nebenstraßen. Und kamen bei einer antiquarischen Buchhandlung vorbei, die deutlich sichtbar verboten alt aussehende Schätze lagerte und mit ein paar Wühlkisten lockte, die vergleichsweisen Ramsch enthielten.
Ich fand innerhalb von ein paar Minuten Hellblau, den vorvorletzten Thomas Meinecke, eine Gesamtausgabe der Theaterstücke von Wolfgang Bauer und Günter Amendts Sexbuch, alle für zwei Mark. Oder so. Es werden wohl 2 oder vielleicht 5 Euro pro Titel gewesen sein, aber es fühlte sich nach der alten D-Mark an. Alles. Der zu verlotternde Nieselregen-Abreisetag in Köln, die zeitmaschinengerechte Buchhandlung, der Jack Black auf Codein-Verkäufer und natürlich das Bauer- und vor allem das Amendt-Buch. Nach alter Zeit und zurecht überkommenen Tagen.
Vor allem der Amendt fühlte sich ganz seltsam an, wie Sandpapier. Nicht haptisch, inhaltlich. Einmal durchblättern und die unbeholfenen 70er Jahre stolperten aus den Seiten. Seiten, die teilweise zerfleddert, teilweise auch zerschnitten waren.
Normalerweise stoße ich solche (beschädigten) Bücher weit von mir - in diesem Fall sagte der innere Souffleur, dass ich es trotzdem mitnehmen sollte. Und auf den höre ich, immer.
Amendt, der Kämpfer an der Sexfront
Aus dem Buch fiel eine Postkarte, die ein Berliner namens Jean im Dezember 1984 an eine Literaturzeitschrift in Essen geschrieben hatte, weil er kein Abo, keine Post mehr bekommen hatte. Also wird das Amendt-Buch aus einer Verlassenschaft dieses Essener Projekts namens "Torso" gewesen und über verschlungene Umwege nach Köln und mit mir dann nach Wien gelangt sein. Und auch das ist so 70er: Bücher und Postkarten hin- und herschicken, übertragenen Einzelexemplaren hinterherjagen.
Das "Sex-Buch" von Günter Amendt erschien 1979 im Weltkreis-Verlag (also hab ich ein Original!) und war nicht mehr der Aufreger wie Amendts Aufrüttler Sexfront aus dem Jahr 1970 (zunächst im argen März-Verlag, später dann auch bei Rowohlt), aber immer noch ein massiver Störfaktor im nur theoretisch und an den aufgeklärten Rändern lässigen deutschen Sprachgebiet der 70er. Die sexuelle und mit ihr auch die gesellschaftspolitische Befreiung war als Idee schon da, in Kunst und Privatleben - öffentlich wurden weiterhin die Ideale der 50er-Spießer&Zudecker-Unkultur gepflegt. Vor allem im Bereich der sexuellen Aufklärung, der Verständlich- und Selbstverständlichmachung von anderer als der auf Fortpflanzung ausgerichteten Ehe-Sexualität, fehlte es noch an allen Ecken.
Und Amendt war da einer der zentralen Eckpfeiler der notwendigen neuen Realität. Dass sich das damals an einem Buch oder auch an einem (mittlerweile legendären) Jugendtheaterstück entzündete, zeigt wie mickrig die Möglichkeiten eines öffentlichen Diskurses waren, wie eng abgesteckt das Spielfeld war.
Dylan, kritiklos. Drogen: bigotterieanprangernd
Ende der 70er war der Soziologe Amendt schon bei seinem zweiten großen Lebensthema angelangt: bei Bob Dylan. Dessen 78er-Tour durch Deutschland, sein erstes Auftreten im deutschsprachigen Raum coverte Amendt als semioffizieller Chronist, natürlich auch das Open Air am 1. Juli am Nürnberger Zeppelinfeld, meinem Initiationsritus in die Welt der Selbstverantwortung. Amendt covert auch die 84er-Tour, die sich als Startschuß von Dylans selbstentwertender Neverending Tour herausstellt und bleibt vergleichsweise unkritisch. Vielleicht hab ich auch deswegen seinen dritten, in den 80ern virulenten Arbeitsschwerpunkt zur Drogenpolitik/Drogengesellschaft nicht mehr wirklich wahrgenommen. Hat wohl auch was mit einer Art Lehrerweglegung zu tun. Man will dem Lehrer, der einen aufgeklärt hat, später nicht auch noch als Aufklärer in anderen Bereichen. Zu viel des Guten.
Amendt dürfte hier aber - ebenso wie bei seinen Sex-Büchern - der zeitgerechteste und radikalste Denker gewesen sein; einer, der eine ganz schlichte Rechnung mit der Realität angestellt hat (Sex/Drogen wird's immer geben, als Antrieb, steckt zu tief im Menschen und seinen Begehren drin) und sich dann dem Thema "Wie bring ichs unfallfrei in den Mainstream?" gewidmet haben.
Denn ebensowenig wie sich die Hippie-Kultur als Avantgarde einer freien Sexualität ewig an der Exklusivität dieses Unterfangens beweihräuchern konnte, ist das auch im Fall der Drogengesellschaft möglich. In beiden Fällen geht es um einen sozial halbwegs friktionsfreien Umgang damit.
Dass Amendt innerhalb dieser Debatte zu jenen gehörte, die die Bigotterie zwischen Drogen-Verboten und Beförderung der Pharma-Industrie herausarbeitete - eh klar.
Die blinden Flecken der versunkenen 70er
Am Wochenende wurde Günter Amendt gemeinsam mit Freunden in Hamburg Opfer eines Amokautolenkers, der unter Drogeneinfluss stand. Amendt hätte über diesen Joke wahrscheinlich gelacht.
In den diversen Nachrufen fallen mir zwei Dinge auf. Zum einen wie weit weg die Qualität des geradlinigen auf derbe Zoten setzenden Aufklärers heute entfernt ist: das bietet heute jeder Hilfskomödiant im ersten Lehrjahr an - so sehr mainstream ist es geworden. Da steckt Amendt eben in diesem versunkenen D-Mark-Land fest.
Und zum anderen, dass sich anlässlich dieser 70er-Publikationen Ende der 90er Kinderpornographie-Vorwürfe konstruieren liessen, die heute noch genauso daherkommen konnten. Und das hat mit einer gänzlich anderen Sichtweise, mit einer gesteigerten Sorgfalt (oder auch/Frage der Sichtweise: einer übervorsichtigen Betulichkeit) zu tun. Die Pädophilie-Industrie steckte damals in den Kinderschuhen, niemand (weder Eltern noch Erzieher) dachte sich viel bei kindlicher Nacktheit. Und so gingen in den 60ern und 70ern Kinderdarstellungen problemlos durch, die heute undenkbar wären - weil unser Schutzempfinden viel ausgeprägter ist.
Bestes Beispiel: der Hollywood-Film Bugsy Malone, eine witzige Mafia-Klamotte, in der alle Rollen von Kindern gespielt wurden. War damals (76, Regie: Alan Parker mit Jodie Foster, damals 13, in einer Hauptrolle) ein Hit, für die ganze Familie. Unbedacht. Und natürlich haben sich Generation von Päderasten drauf einen runtergerieben; und natürlich würde das heute keiner mehr produzieren.
Verschwitzte Angst vor Aufklärung
Das ist die andere, die strunznaive Seite der alten D-Mark-Welt, der alten Günter Amendt-Welt. Aber wie das so ist bei historischen Stoffen: wer heutige Maßstäbe anlegt und im Brustton aktueller Moral Entrüstung äußert ist weniger ein verlogener Falott denn ein Idiot. Und die Verschwitzte Aufgeregtheit manches Titelmacher von heute - schönes Beispiel sind die Anführungszeichen im Titel des Nachrufs hier - entlarven eher den durch die schiere Beschäftigung mit der "Aufklärung" erregten Heuchler als den historisch bedeutenden Aufklärer.