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Felix Knoke Berlin

Verwirrungen zwischen Langeweile und Nerdstuff

21. 3. 2011 - 16:59

Spielideen: Rolle rückwärts

Warum gibt es eigentlich keine Spiele, die der Spieler in seiner stärksten Form beginnt und in seiner schwächsten beendet? Mein Versuch einer neuen Spielidee: Rückwärtslevelnde Rollenspiele.

Von dieser Frage des The-Escapist-Kolumnisten Ben Croshaw hab ich mich anstecken lassen: In Computerspielen geht es darum, immer größere Herausforderungen meistern zu können. Warum aber werden Rollenspiele dann im Spielverlauf immer leichter, warum gewinnt der Spielcharakter an Fähigkeiten dazu – und verliert sie nicht nach und nach?

Die Idee vom verdrehten Rollenspiel faszinierte mich tagelang – und auch, wie Croshaw die wirklich interessanten Fragen, Implikationen und Möglichkeiten übersehen konnte. Denn ich möchte meinen, dass seine Idee erstens eh schon oft als Plot-Mittel eingesetzt wird, in vielen Spielen implizit als Spielmechanik vorkommt und vor allem viel, viel interessantere neue Spielkonzepte ermöglichen könnte, als das, welches er vorstellt.

Ein Oszillieren um eine Achse

Dazu muss ich aber einen Erklärungsversuch wagen: Was ist eigentlich der Kern eines Rollenspiels? Nämlich eine stetige oder sprunghafte Veränderung des eigenen Zustandes, um der sich ändernden Umwelt angepasst zu bleiben. Jaja, nix da mit besser oder schlechter werden, stärker oder schwächer. Rollenspiele bleiben aus Spielersicht ja immer gleich schwer – die Gegner werden stärker, die eigenen Waffen größer. Das ist schon mal ein kleiner Fehler in Croshaws Überlegungen. Denn Rollenspiel-Fortschritt ist ein Oszillieren der eigenen Fähigkeiten um das Herausforderungsniveau des Spiels (und nur im langweiligsten Fall eine Parallele).

@knoke

In Wirklichkeit beschreibt dieses Diagramm natürlich Herausforderung/meine Zeichen-Fähigkeit)

Kurz zur Erklärung: In Rot die Aufgaben, die das Spiel stellt: Die werden üblicherweise mit der Zeit größer (Gegner haben mehr Lebensenergie, Rätsel werden knackiger usw.). In Blauverlauf die Fähigkeiten des Spielers (und nur bedingt des von ihm gesteuerten Charakters!): Am Anfang ist er überfordert, dann erlernt er das Spiel und bekommt neue Fähigkeiten/Waffen und ist unterfordert (die Kurve wandert unter das Anforderungsniveau des Spiels), dann werden die Aufgaben überdurchschnittlich schwer, bis der Spieler wieder einen Entwicklungssprung macht usw.

Eine klassische Situation ist ein Shooter, der kurz vor Abschluss eines Abschnitts sehr schwierig wird (Endgegner), um danach dank einer neuen Waffe zunächst zur Entspannung und Belohnung sehr einfach zu werden (Waffe ausprobieren).

Lange Präambel, jetzt also mein Versuch einer Basis für ein rückwärtslevelndes Rollenspiel - die ich auch ohne das ganze Gamedesign-Theoriegedöns hätte machen können; in Wirklichkeit hatte ich natürlich erst die Spielidee, dann das theoretische Konzept. Aber. genau. darum. geht. es. ja. (jaja)

Balancing-Probleme und faule Kompromisse

Typischerweise geraten Rollenspiele zum Ende hin etwas aus dem Gleichgewicht und werden viel zu einfach - das ist das Balancing-Problem, das vielen Gamedesignern viele graue Haare hat wachsen lassen. Es ist schwer, ein komplexes Spiel, wie jedes Rollenspiel eines ist, von Anfang bis Ende im Griff zu haben. Zumal es von verschiedenen Spielern ganz unterschiedlich gespielt werden kann. Die einen Spieler versuchen es mit linear mit dem Spieler mitlevelnden Gegnern (Morrowind-Hass), die anderen ignorieren es (Gothic-3-Murks) und Blizzard nimmt sich zehn Jahre Zeit, um es doch zu meistern (was aber auch nur geht, wenn man einen WoW-Goldesel in der Garage stehen hat).

Aber zurück zum rückwärtslevelnden Rollenspiel. Wie ich mit meinem Diagramm versucht habe zu zeigen, ist das Aufleveln des Spielers in Wirklichkeit ein Gamedesign-Element, das andere Spiele als Endgegner-, Waffenkauf- oder Überraschungs-Angreifer-Spielelement kennen: Es ist der Wendepunkt, der lokale Höhepunkt der Spieler-Fähigkeit-Kurven. In RPGs werden diese Wendepunkte vom Spieler als Pause genutzt aufzuleveln - danach geht es für einige Zeit etwas weniger schwierig im Spiel weiter.

Aber dieses Aufleveln ist eine strategische Entscheidung, möchte man einwenden, darum geht es doch gerade bei RPGs. Stimmt nur prinzipiell, denn auch wenn das Aufleveln relativ detailliert sein kann: am Ende optimiert man nur, wie viel Schaden man (nah oder fern) austeilen und einstecken kann. In einem Shooter wählt das Spiel für den Spieler eine neue, stärkere Waffe (die irgendwo rumliegt, am besten in der Hand eines Endgegners). Im Rollenspiel wählt der Spieler selbst zwischen verschiedenen grafischen Repräsentationen ein und der selben Waffe aus, sei sie nun ein Zauber, ein Schwert oder ein Bogen.

Das Aufleveln muss passieren, am Ende steht ein Gott in Avatargestalt - und wenn nicht, dann nur, weil die Gamedesigner zu faul waren und die Fähigkeitenkurve künstlich beschnitten, damit sich der Spieler nicht all zu sehr mit seinen Fähigkeiten vom Spiel und seinen Anforderungen entfernt.

Das rückwärtslevelnde Rollenspiel

Wenn man nun ein rückwärtslevelndes Rollenspiel konzipieren will, muss man folgenden Dreh verstehen: Eine Umkehrung einer oder beider Linien des oben gezeigten Diagramms ändert nichts am Spielprinzip!
Das hat Croshaw nicht verstanden:

  • Invertiert man die Anforderungslinie, wird das Spiel schnell langweilig.
  • Invertiert man die Fähigkeitenlinie, wird das Spiel schnell zu schwierig.
  • Invertiert man beide Linien (das ist Croshaws Fehler!), hat man die selbe Situation wie zuvor: sich an die Anforderungen anpassende Fähigkeiten.

Als einziger Ausweg aus diesem Problem erscheint mir, dass man die Abwärtslevel nicht über Gameplay, sondern über die Story regelt. Als interessantes Story-Instrument oder so. Aber das wäre mir zu langweilig. Ich glaube, mit dem Wissen um die eigentliche Unmöglichkeit könnte man tatsächlich ein rückwärtslevelndes Computerspiel entwickeln und - ha! - bereits existierende erkennen!

Der dritte Weg

Denn natürlich ist das alles gar nicht so fix, wie ich es erst weismachen wollte. Das Ableveln kann nämlich zum einen viel strategischer sein, als das Aufleveln. Zum anderen eine ganz andere Dynamik entwickeln.

Was ich eh als eine Fehlentwicklung vieler Rollenspiele sehe: dass das Können des Spielers (und nicht seiner Figur) wachsen muss und dass Fortschritte in der Bedienung des Spiels sich in Spielerfolg niederschlagen).

Die strategische Komponente ist, dass man das Spiel tatsächlich mehr oder weniger gleich schwierig sein lässt - und dem Spieler Fähigkeiten nimmt. Also nicht nur graduell schlechter werden lässt, sondern ihn vor schwierige Entscheidungen stellt: Auf was kann ich am ehesten verzichten, was kann ich durch Übung, geschickte Kombinationen kompensieren?

Das müssen ja noch nicht mal "Fähigkeiten" im näheren, sondern auch im ferneren Sinn sein: liebgewonnene Gruppenmitglieder, die man nach und nach rauswerfen muss, mühevoll ausgearbeitete Artefakte oder andere Gegenstände. Es ist ja einfach viel schwieriger, sich von etwas lieb Gewonnenem schnell zu trennen, als sich in etwas langsam zu verlieben. Und genau das kann eine Inversion bekannter Spielprinzipien ausnutzen.

Passiert ja eh schon

Und all das gibt es ja längst, will ich meinen. Autorennspiele, bei denen das Auto dank zahlreicher Minikollisionen langsam auseinander fällt, sich leerende Magazine in Egoshootern, Verschleiß bei Inventargegenständen in Rollenspielen oder Ausrüstungs- oder "Charakter"-Konflikte: schleichen oder ballern, Zauber oder Schwert.

Oft sind diese Konflikte - die zumindest für mich viel interessanter sind durch das, was man aufgibt, als das, was man bekommt - verpackt als Aufrüstung, Aufleveln. In Wirklichkeit aber schränkt man seine Spielfigur immer weiter ein, bis sie am Ende genau definiert gegenüber eine riesigen Menge nicht gewählter Alternativen ist.

Zuletzt hat dieses Schlechterwerden ja auch ein ganz praktisch realweltliches Vorbild: das Altern. Wenn man Leben nicht als Fähigkeiten verwirklichen, sondern Alternativen ausschließen betrachtet, könnte man mit dem (von mir weiter oben offenbarten) Wissen ein vielleicht interessanteres Spiel des Lebens entwickeln, das nicht versucht, Verlust als Wachstum zu verkaufen oder Fähigkeitendiskriminierung als Spezialisierung.

Und überhaupt finde ich die Aufnahme des Zerfalls als Gamedesign-Element längst überfällig. Am spannendsten ist im Leben ja auch immer das Scheitern - und das ist ja auch typischerweise das, woraus man etwas lernt.

Das blöde Aufleveln und Aufrüsten fast aller mir bekannten Spiele erscheint mir dementsprechend kitschig und hohl. Es stellt nur kurzfristig zufrieden und wird schon beim nächsten Schritt nach oben vergessenswert. Was ich will, ist der Verlust, der Zerfall, das Scheitern, um danach jenseits des Computers vielleicht etwas gefasster weiterleben zu können.