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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

12. 3. 2011 - 22:38

Journal 2011. Eintrag 55.

Japan und keine Panik.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und zuletzt 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag als Anregungs- und Denkfutter, Fußball-Journal '11 inklusive.

Zumeist werden sich hier Geschichten/Analysen finden, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit einer Beobachtung am Rande der Natur- und Umwelt-Katstrophen in Japan.

Godzilla ist nicht zum Spaß erfunden worden. Das urzeitliche Monster, das aus dem Meer kommt und Tod und Verwüstung bringt, ist zum einen eine Metapher für das Leben auf dem Vulkan, die Permanenz der Gefahr von Erdbeben und Flutwellen, denen die fragilen Nihon-Inseln ausgesetzt sind; und zum anderen ein Symbol für das, was sich im schlimmsten Fall aus der Nuklear-Energie entwickeln kann.
Godzilla ist eben auch das Ungeheuer, das im Atom steckt - egal ob in der Bombe, die seit den Abwürfen 1945 auch kulturell allgegenwärtig ist, oder in den Kraftwerken, die das sonst ohne viele Energie-Resourcen ausgestatteten Industrienation sich allzu abhängig machen würde.

Mit dieser Gefahr und dieser Angst lebt Nippon seit Jahrzehnten, und ihre Lage ist maximal mit dem Wissen um das immer mögliche große Erdbeben, das auch Kalifornien in den Abgrund reißen könnte, vergleichbar.

Weil aber alle wissen, dass man auf dieser Bruchlinie lebt, und weil es auch allzuoft Thema ist, politisch, privat und kulturell, kann man nicht davon sprechen, dass alles nach dem bewährten menschlichen Modell der totalen Verdrängung funktioniert.

Genausowenig gilt heute noch die Wissenschafts-Hörigkeit wie sie in den 50-70ern, also just Godzillas Höchstform, aktuell war.

Das Referenz-Wissen der Informationsgesellschaft

Und das ist es, was mir anlässlich der Rezeption der Horror-Meldungen aus Japan heute so stark aufgefallen ist: im 21. Jahrhundert hat sich, was durch Natur oder menschliche Dummheit ausgelöste Katastrophen betrifft, eine gewisse Vernunft breit gemacht, eine interessante Unaufgeregtheit im Umgang mit den Tatsachen.

Das war nicht immer so. Und es könnte wegweisend sein.

Das alles hängt hauptsächlich damit zusammen, wie viel wir wissen oder in Erfahrung bringen können, innerhalb kürzester Zeit.

So war etwa einem Gutteil der Weltbevökerung völlig klar, was die nach dem Sendai-Erdbeben ausgesprochenen Tsunami-Warnungen in der Praxis bedeuten. Das war im Dezember 2004, als die riesige Flutwelle Thailand und in der Folge fast die gesamte Hemisphäre betraf, noch bei weitem nicht so. Das sich zurückziehende Meer wurde so zum Massengrab für tausende Unwissende. Diesmal waren selbst Pazifik und Südamerika vorbereitet.

Oder das Wissen um die Schwere von Erdbeben, etwa was 8,9 bedeutet, auch im Vergleich zu den Katstrophen in Indonesien oder Chile oder dem großen Erdbeben von Lissabon 1755. Oder auch mit den harmlosen Rumplern, die es diesbezüglich in Europa gibt.

Und natürlich ist auch der mögliche Atomunfall, die wahrscheinliche Kernschmelze von Fukushima von Referenzgrößen umstellt. Mit Vier auf einer siebenteiligen Skala, heißt es da, wäre der Unfall einzustufen, so wie Three Mile Island. Sieben wäre Tschernobyl.

Vier von sieben und die Einschätzung von 8,9

Und auch die mögliche atomare Wolke, die wir damals, bei Tschernobyl noch nicht so wirklich auf der Rechnung hatten, die wird jetzt schon vorkalkuliert - aktuell treibt sie, quasi virtuell, in die Tiefen des Nordpazifik hinein.

Es gibt also sowohl Wissen als auch Bewusstsein.
Das ist kein Zufall.
Das öffentliche Interesse an naturwissenschaftlichen Themen nimmt schon seit Jahren zu.
Logisch.
In einer zunehmend fragmentierten Welt, die politische und gesellschaftliche Verlässlichkeiten verliert, muss irgendetwas sicherer und gewisser sein - das ist ein menschliches Grundbedürfnis.

Und das zunehmende Wissen, die stark verbesserte Referenz-Qualität nimmt dem Umgang mit Naturkatatstrophen den panischen Schrecken früherer Tage. Wenn man nicht weiß, warum die Erde bebt, ist das viel angsteinflößender. Wer die Geopolitik bestimmter Weltgegenden nicht kennt, wird überrumpelt.

Wissenschafts-Selbstversorgertum

In recht kurzer Zeit, so in den letzten 30, 40 Jahren, hat sich die pure Wissenschaftsgläubigkeit in eine Art Selbstversorgertum entwickelt. Menschen, deren Vorfahren sich noch einreden liessen, dass Beben oder Überschwemmungen etwas mit dem Zorn der Götter zu tun hätten, belächeln diese schiefen Metaphern und können Geschehnisse einordnen. Schließlich hat auch der dümmste Fernsehkanal zumindest eine gewitzte Wissens-Sendung - so gesehen ist das Wissen um die Praxis der Naturwissenschaften das einzige Gebiet, in dem die Bevölkerung, das gefühlte gesamtgesellschaftliche Kollektiv besser geworden ist.

Natürlich muss sich der Hokuspokus, die Verdummung und die Bauernfängerei irgendwo andershin verlagern. Der emotionale Haushalt einer Population, der früher durchaus über wirre Thesen zu Naturkatastrophen geregelt wurde (Schuldzuweisungen an einzelne Bevölkerungsgruppen, Hexenjagden inclusive) muss anderswo ausgeglichen werden.

Die einstige Hochburg des Aberglaubens, die mit Mystizismus überzogene Natur, steht aktuell im Zentrum eines Diskurses zur reinen Vernunft. Weil man sie als Bereich betrachtet, in dem Wissen gesichert werden kann.

Weggebrochene Verlässlichkeiten und nötige Aufklärung

Dafür verlagert sich das irrlichternde Rumpelstilzchen des Fundamentalismus zunehmend in Bereiche, die zuvor als gesichert galten. Dort, wo die Verlässlichkeiten wegbrechen, im Bereich der geisteswissenschaftlichen Grundlagen, der politischen und staatlichen Grund-Versprechen, des Zusammenlebens, dringen Angstmacher und Destruktivisten ein, die in früheren Jahrhunderten noch ihre Geschäfte mit dem naturwissenschaftlichen Unwissen gemacht hätten.

Da das nicht mehr geht, hat man sich auf einen anderen Bereich verlagert: die Unsicherheit, die früher der Natur zugeschrieben wurde, hat jetzt das menschliche Zusammenleben und seine Organisationsformen erreicht.

Und weil es diesbezüglich eben keine, schwache oder zu geringe Aufklärung gibt, auch weil zwar eine Wissens-Sendung für jeden Dodel-Sender leicht herstellbar ist, aber ein Programm zur politischen Aufklärung nicht, haben sich die Verhältnisse umgekehrt.

Der Zorn der Götter, der wird heute zwar nicht mehr in Erdkrustenbewegungen vermutet, dafür aber im aktuellen Dauerscheitern an Lösungen für von Menschen verursachte Problemen.

An den Menschen liegt es nicht.
Die haben sich, das zeigt mir die aktuelle Annahme der japanischen Geschehnisse, durchaus etwas beigebracht oder beibringen lassen.
Es fehlt wohl eine Initiative, die nach der naturwissenschaftlichen Aufklärung eines Massenpublikums auch die anderen, für ein Zusammenleben genauso wichtigen Grundlagen verständlich aufbereitet.