Erstellt am: 10. 3. 2011 - 11:16 Uhr
Gegen das Nicht-Wissen
Ein Bild des Großvaters hängt in allen Häusern der Verwandten, es zeigt ihn in Wehrmachtsuniform. Ein Wahnsinn, findet der Enkel und eine Tante stimmt zu: Ja, aber es gibt kein anderes. "Völlig entkontextualisiert", sagt die Enkelin Maria Pohn-Weidinger. Sie ist eine von sieben Frauen in der Dokumentation "Liebe Geschichte", die versuchen, die Vergangenheit enger Familienangehöriger in eine Kontext zu setzen und ihr Bild des Großvaters, des Vaters oder auch jenes der Mutter mit historischen Fakten abzugleichen. Denn obwohl hauptsächlich Männer als nationalsozialistische Täter zur Verantwortung gezogen wurden: Auch Frauen waren Täterinnen.
Wie gehen Töchter und Enkelinnen mit der nationalsozialistischen Familiengeschichte um? Diese Frage stellt das Kollektiv Klub 2 mit und in der Dokumentation "Liebe Geschichte". Die Filmemacherinnen Simone Bader und Jo Schmeiser dringen dafür nicht in private Räumlichkeiten vor. Sie lassen sich auch nicht auf Einzelheiten von Fällen ein. Vielmehr geht es um den Prozess der Spurensuche und um Geschichte, wie sie in vielen österreichischen Familien unausgesprochen tradiert wird. Und das macht die Stärke von "Liebe Geschichte" aus - beliebig erscheint am Ende nur der Titel.
Roland Icking/Klub Zwei
Schweigen und Nicht-Wissen
In den Erzählungen der Frauen trifft man als ZuschauerIn auf Aufseherinnen in Konzentrationslagern, Trümmerfrauen und SS-Unterscharführer. Denn obwohl der Dokumentarfilm den Fokus auf Frauen als Täterinnen während des Nationalsozialismus richten will, blendet er die Handlungen der nationalsozialistisch gesinnten Männer nicht aus. Inkonsequenz kann man dem "Klub 2"-Kollektiv nicht vorwerfen, sie reflektieren mit ihrer Darstellung die Gesellschaft. Die Konfrontation mit der Vergangenheit im engen Familienumfeld ist gerahmt in die historischen, offiziellen Positionen, die Österreich bezüglich seiner nationalsozialistischen Vergangenheit eingenommen hat. Die Geschichte der "kleinen Nazis" spiegelt das Verhalten des offiziellen Österreichs.
"Das Schweigen und das Nicht-Wissen, das ist die Volkskrankheit", attestiert Helga Hofbauer, eine der Protagonistinnen, zu Beginn. Tatsächlich: Anfänglich findet man die Schilderungen nicht außergewöhnlich. Noch ärger: sie sind einem vertraut. Muster und Meinungen haben sich über Jahrzehnte eingeschlichen.
Liebe geschichte
Ein 360-Grad-Kameraschwenk über die Dächerlandschaft des Herzen Wiens eröffnet den Film. Große Tableaus zeigen zwischen den Erzählungen Gebäude wie die UNO-City oder das Museumsquartier, die für den Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen System in einem bestimmten Jahrzehnt stehen. Nicht selten ist das Bild so gewählt, dass der Blick auf einen bestimmten Ausschnitt gezwungen wird oder ein architektonisches Detail einem die Sicht auf Dahinterliegendes nimmt. Menschen spiegeln sich in Gebäudefronten oder schwinden in den Totalen.
Dass es eine eigene Architektur-Recherche für den Film gab, sieht man. Es sind spannende Standbilder bekannter Orte. Off-Stimmen liefern dazu etappenweise die historischen Eckdaten: Die Zweite Republik, die sich auf der Moskauer Deklaration von 1943 begründet und den Mythos von Österreich als erstem Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands für Jahrzehnte fortschreibt und in der Nachkriegsgesellschaft verankert. Die Entnazifizierung und die folgende Rehabilitierung der sogenannten "kleinen Nazis" in den Fünfziger Jahren. Der Eichmann-Prozess Anfang der 1960er Jahre, der die Shoa weltweit zu einem öffentlichen Thema macht. Der Prozess gegen Franz Murer, der im besetzten Wilna stellvertretender Gebietskommissar war und die Hauptverantwortung für die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung von Vilnius trug. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten 80.000 Juden in der Hauptstadt Litauens, nur wenige hundert Menschen überlebten die Nazi-Herrschaft. In Graz wurde Murer freigesprochen. In den 1960ern manifestierte sich das Bild der unbeteiligten Frauen. Täterinnen waren kaum vorstellbar. Einige KZ-Aufseherinnen wurden vereinzelt als Bestien dargestellt.
Dass KZ-Aufseherinnen von Häftlingen als besonders grausam beschrieben wurden, setzt die Ethnologin Jeanette Toussaint - eine der Protagonistinnen der Dokumentation - in Relation mit traditionellen Rollenzuschreibungen. Dass Männer brutal wären, würde als "normal" angesehen. Dietlinde Pollach sitzt still neben Toussaint und blickt zu Boden. Ihre Mutter hat als Aufseherin im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück gearbeitet. Die Wienerin hat sich die Lebensjahre der Mutter mühsam zusammengetragen, hat recherchiert und zitiert in "Liebe Geschichte" aus der Anklage gegen ihre Mutter. Zwei überlebende Jüdinnen wollten klagen, doch da war die Mutter, die Aufseherin, bereits gestorben.
In den Dokumenten ist Pollach einer Fremden begegnet, die sie zuvor als gut und als ihre Mutter erlebt hatte. Ihre Körperhaltung spricht Bände. Die Sympathie, die man als ZuschauerIn für Pollach hat, könnte nicht größer sein. Als die Klub 2-Filmemacherinnen nachfragen, wie es ihr mit ihren Recherchen ginge, sagt Pollach: "Man gewöhnt sich auch daran. Wenn etwas Neues auftauchen würde, wäre es ärger".
Sophie Maintigneux
Das Schwierigste: eine ambivalente Haltung gewinnen
Diffuse Ahnungen standen unterschwellig immer im Raum. Doch es sei ein riesen Schritt, wenn man die Fakten vor sich liegen sähe, sagt Musikerin und Programmiererin Helga Hofbauer im Film. Zum Vorschein kommen Großmütter, die noch in den Fünfziger Jahren Päckchen an inhaftierte Kriegsverbrecher schicken. Es folgen Treffen mit totgeschwiegenen Halbbrüdern, und der alte Familienname, der gegen einen deutschen eingetauscht wurde, taucht auf. Die Scham, die Schuld und die Angst, die sie als junge Erwachsene hatten, kann beim Schopf gepackt werden. Rückblickend ist den Töchtern klar, wie sehr sich die ideologische Prägung der Eltern in ihrer Erziehung ausgewirkt hat - weit über die Gymnastikstunden beim Turnerbund hinaus, die mit einem kräftigen "Turn Heil!" begannen.
Die Erzählungen der Frauen verdichten sich, mehr und mehr nimmt man die ruhigen Architektur-Bilder für sich in Anspruch. Die Frage der Weitergabe bewegt. Die große Geschichte ist erforscht, Oral History hat die Wahrnehmungen von Zeitzeugen aufgezeichnet, jetzt geht es um die längst erwachsene Enkelgeneration. 1991 räumt der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky mit der bisher vertretenen Opferthese des offiziellen Österreichs auf, vor dem Nationalrat spricht er von der "Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger diese Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben". Wie der Nationalsozialismus in den Familien der TäterInnen weiter wirkt, wird erst in den letzten Jahren intensiver erforscht.
"Ich schlafe mit Naziliteratur ein, und ich wache mit Naziliteratur auf. Doch irgendwann will ich auch, dass es ok ist, es beiseite zu legen", wünscht sich die Soziologin Maria Pohn-Weidinger. Eines der Bücher könnte "Die Brüder Himmler" sein. Die Politikwissenschafterin Katrin Himmler hat ihre Familiengeschichte öffentlich thematisiert. In "Liebe Geschichte" erklärt die Großnichte Heinrich Himmlers, warum sie den Familiennamen behalten hat, und was ihr Sohn von beiden Seiten seiner Familie mitbekommt. Und sie stellt fest: das Schwierigste überhaupt ist es, eine ambivalente Haltung gegenüber den TäterInnen zu finden.
Die Dokumentation "Liebe Geschichte" ist derzeit in Wiener Kinos zu sehen. Empfehlung.
"Liebe Geschichte" ist eine clever gemachte Doku, die nachwirkt. Simone Bader und Jo Schmeiser erheben keine Zeigefinger, sie bedrängen weder ihre Protagonistinnen noch die Zuschauer mit Moral. Die versteht sich von selbst, genauso, wie man nach dem Film nach Jahren und Umständen fragen und forschen möchte, die man selbst vielleicht gerne weiterhin ausgeklammert hätte.