Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Wahre Liebe, leerer Wahlkampf"

Ballesterer FM

Artikel aus dem Magazin zur offensiven Erweiterung des Fußballhorizonts.

6. 3. 2011 - 08:04

Wahre Liebe, leerer Wahlkampf

Die Filmdoku "The Other Chelsea" veranschaulicht anhand des Fußballvereins Schachtar Donezk von Oligarch Rinat Achmetow die politische und ökonomische Stagnation in der Ukraine.

Text: Radoslaw Zak
Fotos: The Other Chelsea

Unter den 37.357 Zuschauern im Istanbuler Sükrü-Saracoglu-Stadion befinden sich am 20. Mai 2009 der Bergarbeiter Sascha Schchukin und der Donezker Stadtratspräsident Kolja Lewtschenko. Sie sind gekommen, um dem UEFA-Cup-Finalsieg von Schachtar Donezk gegen Werder Bremen beizuwohnen. Beide sind die gegensätzlichen Protagonisten der Doku "The Other Chelsea. A Story From Donetsk" des deutschen Regisseurs Jakob Preuss.

Donbass-Arena

Kloos & Co. Medien

Wie die meisten der 7.000 ukrainischen Fans hat der damals 55-jährige Sascha Schchukin für die Anreise eine 40-stündige Busfahrt hinter sich gebracht. Der eingefleischte Schachtar-Fan opferte seine gesamten Ersparnisse für den Trip und trat wenige Stunden nach dem Match wieder die Heimreise an. Nicht ganz so strapaziös reiste Kolja Lewtschenko an: Der smarte Aufsteiger aus der russisch orientierten Partija Regionow (Partei der Regionen) flog per Charterflug nach Istanbul und ließ es sich vor und nach dem Spiel in Nobelrestaurants gut gehen. Für ihn war das Spiel ein wichtiger geschäftlicher Event.

Akhmetov

Kloos & Co. Medien

Rinat Achmetow

Kohlekumpel und Neureiche vereint

Als Viktor Janukowytsch aus der Partei der Regionen bei der Präsidentschaftswahl 2004 zum Sieger erklärt wurde, brach die "Orange Revolution" aus, ein wochenlanger Protest gegen Wahlfälschungen. Nach einer neu angesetzten Stichwahl wurde der von der westlich orientierten Partei Nascha Ukrajina (Unsere Ukraine) unterstützte Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko zum Sieger erklärt. Jakob Preuss war Wahlbeobachter des ersten Wahlgangs und störte sich an der Berichterstattung des Westens. "Ein kalter Krieg zwischen dem Osten und dem Westen der Ukraine wurde heraufbeschworen: Gut gegen Böse, Moskau gegen die freie Welt." Für Preuss war das der Impuls, sich mehr mit der politischen Situation in der Ukraine zu beschäftigen. In Donezk kam der Berliner nicht am Fußballklub Schachtar vorbei. "Ich habe die Baustelle der Donbass-Arena und ein Fünf-Sterne-Hotel gesehen und mich gefragt, wer in dieser Industriestadt dort einquartiert werden soll." Da die ganze Stadt mit Ankündigungen des nächsten Spiels von Schachtar zuplakatiert war, beschloss Preuss, dem Stadion mit seinem Filmteam einen Besuch abzustatten.

Die Fans des 1936 gegründeten Bergarbeitervereins, der in der Sowjetunion viermal Pokalsieger wurde, erlebten ab der Mitte der 1990er Jahre ein wahres Märchen. Fünf ukrainische Meisterschaften, fünf Pokalsiege und einen UEFA-Cup konnten die Schachtar-Anhänger seit dem Einstieg des mit Öl- und Energieunternehmen reich gewordenen Oligarchen Rinat Achmetow 1996 feiern.

Levtchenko

Kloos & Co. Medien

Sascha Schchukin

Doch das Stadion spiegelt auch die gesellschaftlichen Gegensätze zwischen der champagnertrinkenden Elite im VIP-Bereich und den Arbeitern auf den Rängen wider, die außerhalb des Stadions ihren Wodka leeren müssen. "Die Idee, diesen Kontrast durch den Klub zum Thema zu machen, kam uns sehr schnell. Wir haben Sascha und seine Freunde kennengelernt, die unglaublich viel repräsentieren. Als Gegenpart bot sich Lewtschenko durch seine populistischen TV-Auftritte förmlich an", sagt Preuss.

Ukrainische Farbenlehre

Im Gegensatz zu Sascha Schchukin, der unter desolaten Bedingungen im Kohleschacht arbeiten muss, sich aber seinen Humor bewahrt hat, wirkt der politisch ambitionierte Businessmann Lewtschenko kühl und berechnend. Er ist kein Fußballfan und zeigt sich im Stadion, um seine Nähe zu Rinat Achmetow zu demonstrieren. Schachtar könnte für ihn karrierefördernd sein. Lewtschenko vertritt die radikalen Positionen seiner Partei: Er ist gegen Westeuropa, gegen die "Orange Revolution" und trauert der Sowjetunion nach. In seinem stilvoll eingerichteten Haus hängt ein Porträt von Macchiavelli, in seinem Büro eines von Stalin. "Er nutzt Politik zur Machterhaltung und hat keine eigenen Werte, dafür ein gefährliches Halbwissen, das eine wilde Mischung aus Religion, Sowjetnostalgie und Nationalismus vereint", sagt Preuss.

Doch Lewtschenko dürfte bei den Wählern einen Nerv treffen. Seine zahlreichen überregionalen TV-Auftritte ließen ihn populär werden, zudem sammelt seine Partei in der Region Donbass 90 Prozent der Stimmen ein. "Im postsowjetischen Raum findet eine Verklärung der Vergangenheit statt, die Demokratie hat sich nicht als starkes Wertesystem etablieren können", sagt Preuss. "Lewtschenko sagt, was die Menschen hören wollen. Aber in der neuen politischen Realität klafft, ähnlich wie schon in der Sowjetunion, eine große Lücke zwischen Rhetorik und Handeln." Dessen sind sich Schchukin und seine Kollegen bewusst. In ihren Augen sind die neureichen Politiker nichts weiter als Kriminelle, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch halbseidene Geschäfte das große Geld gemacht haben. Trotzdem geben sie der Partei der Regionen ihre Stimmen, um ihre russische Identität zu wahren und die Abneigung gegen die in Kiew begonnene "Orange Revolution" kundzutun. Das ist auch ein Anliegen von Klubpräsident Achmetow, der während der Revolution im November 2004 ein deutliches Zeichen setzte. Bei der 0:4-Champions-League-Niederlage Schachtars gegen den AC Milan lief sein Team in weißen statt in den traditionellen orangen Dressen auf. Trainer Mircea Lucescu gab an, nichts von dem Trikotwechsel gewusst zu haben. Als Gerüchte laut wurden, in den kommenden Spielen werde die Mannschaft in Blau, der Farbe des Erzrivalen Dynamo Kiew, auflaufen, protestierten die Fans. Die Idee wurde schnell verworfen.

Fußballpublikum

Kloos & Co. Medien

Brot und Spiele

Derartige Unmutsäußerungen konnten der Reputation des 45-jährigen Achmetow, dessen Vermögen auf über 30 Milliarden Dollar geschätzt wird, nicht schaden. Der tatarische Unternehmer wird in der Bevölkerung als "guter" Oligarch wahrgenommen. Im Gegensatz zu seinen reichen Kollegen wohnt er nicht an der Cote d’Azur und suchte sich keinen ausländischen Verein als Spielzeug. Achmetow wohnt immer noch im schmucklosen, von der Kohleindustrie geprägten Donezk, das sich mit dem kosmopolitischen Lemberg und Kiew nicht messen kann. Durch den ökonomischen Abstieg nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion setzte die Stadt vermehrt auf neue, florierende Industriezweige wie die Produktion von Maschinen und Lebensmittel sowie den Dienstleistungssektor. In diesen Wirtschaftsbereichen hat Achmetow seine Finger ebenfalls im Spiel. Dem desolaten Bergbau schenkt er, wie Schchukins Freunde klagen, wenig Beachtung und das obwohl noch 17 Zechen und fünf Stahlwerke existieren.

Ballesterer Cover

Kloos & Co. Medien

Dieser Text erschien auch in der aktuellen Ausgabe ballesterer #60 (März 2011) - ab sofort österreichweit im Zeitschriftenhandel!

Außerdem in dieser Ausgabe:
Nie mehr Meister
Döblinger Klassenkampf
Kommerzgegner

Der Oligarch Achmetow repräsentiert für die Bewohner Donezks dennoch die Erfolgsstory eines Mannes, der durch den richtigen Geschäftssinn und mit harter Hand mehr erreichen kann als die lokalen Politiker. "Er hat eine Fußballakademie gebaut und sponsert jetzt Schulen. Das muss man aber mit Vorsicht genießen", sagt Preuss. "Jeder Multimilliardär ist geneigt, irgendwann Frieden mit dem Volk zu schließen, und steckt einfach ein paar Millionen in soziale Projekte." Davon ist auch der Fußball nicht ausgenommen: Im neuen, 55.000 Zuschauer fassenden Luxusstadion bekommen die Fans Karten zu leistbaren Preisen. Bei einem durchschnittlichen Monatslohn von 320 Dollar sind für die billigste Dauerkarte 20 Dollar zu zahlen.

Die gesellschaftlichen Hierarchien werden dadurch nicht angetastet. Bei der Eröffnungsfeier der Arena kassierte die Sängerin Beyonce sieben Millionen Dollar für ihren Auftritt. Eine Karte in der VIP-Loge kostete 1.000 Dollar, die günstigsten Karten für ihre Show waren für fast schon demokratische neun Dollar zu haben. "Achmetow will nicht alleine in der Arena sitzen. Er tut es für sein Ego und um sich feiern zu lassen", sagt Preuss. "Die Leute können zwar noch ins Stadion gehen, aber ihre Lebensverhältnisse bessern sich dadurch auch nicht."