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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

9. 3. 2011 - 10:18

Collapse Into Now

Mit dem 15. Studioalbum von R.E.M. geht eine Ära zu Ende.

nostalgia n. 1. a yearning for the return of past circumstances, events etc. 2. the evocation of this emotion, as in book, film, etc. 3. longing for home or family; homesickness.
(Collins English Dictionary)

R.E.M. sind der Soundtrack meines Lebens.

Es mag etwas seltsam sein, Künstlern und ihren Werken eine solch priviligierte Stellung einzuräumen, aber ich kann aus vollster Überzeugung behaupten, dass R.E.M. mich genauso geformt, berührt und geprägt haben, wie die Menschen in meinem nahen Umfeld.

Gekriegt haben sie mich wohl in meiner verletzlichsten Phase, als Teenager, vor rund 15 Jahren. Das unvergleichbare Zusammenspiel des Vierers aus Athens/Georgia, seine Fähigkeit zum Wandel und natürlich seine von allen geschätzte Integrität: Das habe ich mit offenen Armen empfangen. Michael Stipes kryptische Texte haben mich immer erreicht, nicht zuletzt aufgrund ihrer Ambivalenz. Dank R.E.M. habe ich Musik überhaupt erst zu schätzen gelernt und ein R.E.M.-Mixtape von mir war mehr wert als ein Liebesbrief. Noch heute denken viele meiner Freunde automatisch an mich, wenn sie R.E.M. im Radio hören.

Keine Band wusste je besser, wie es ist, ich zu sein.

R.E.M.

Anton Corbijn

A Serious Matter: R.E.M.

Collapse Into You

  • Tipp:

Eine ausführliche Listening-Session zu "Collapse Into Now" ist am 9.3. in FM4 Connected (15-19h) zu hören

Wären R.E.M. ein Fußballclub, wären die letzten Jahre die dunklen Kapitel der Kreisliga. Denn spätestens seit "Around the Sun", dem von Fans und Kritikern häufig geächteten Fehltritt, bröckelt die Magie, die diese Gruppe so lange umgab. Für viele ist es unverständlich, wie die einstigen Alternative-Götter, die selbst in ihrer kommerziellen Phase Klassiker wie "Automatic for the People" oder "New Advenures in Hi-Fi" produzieren, etwas so Liebloses und Fades veröffentlichen können. Für die Meisten ist der Abgang von Schlagzeuger Bill Berry 1997 Ursache allen Übels, heute klingt das fast wie eine mystifizierte Entschuldigung. Aber auch wenn "Reveal" ein oft unterschätzter Diamant ist, das letzte wirklich große Album von R.E.M. liegt bereits 13 Jahre zurück: das verstörte "Up", eine Krautrock-Hommage mit Überlänge, auf der sie unbewusst auch ihre persönliche Krise thematisieren. Selbst die selbstverordnete Testosteron-Kur "Accelerate" (2008) klingt trotz seiner wütenden Ellbogen-Technik wie von einer Band, die verkrampft versucht, wie R.E.M. zu klingen und kann daher nicht über die spürbare Identitätskrise hinwegtäuschen.

Wenn man aber mit etwas so eng verbunden ist, verzeiht man schneller oder drückt zumindest beide Augen zu. Damit das leichter fällt, ist das 15. Studioalbum von R.E.M. eine Mixtur aus ihren altbekannten Stärken. Alles schon mal gehört, aber für jeden was dabei: "Collapse Into Now".

R.E.M.: "Collapse Into Now" Albumcover

Warner

R.E.M.: Collapse Into Now (Warner, 2011), produziert von Jacknife Lee und R.E.M.

Der Albumtitel, ein Vorschlag von Patti Smith, beschreibt ein kalkuliertes Stolpern zurück in altbewährte Muster. Aufgenommen in Nashville, New Orleans und in den legendären Hansa Studios zu Berlin sind die 12 Songs auf "Collapse Into Now" wie ein Streifzug durch R.E.M.s musikalische Bandbreite. Dabei verfolgen sie ein herrlich aufgebautes Narrativum, angefangen bei den beiden geradlinigen Rockern "Discoverer" und "All The Best", auf denen Peter Buck seine Gitarre in verzerrenden Feedbacks übt und Stipe wie ein Wolf heult. Wer dachte, R.E.M. würden auf "Collapse Into Now" aber wie auf "Accelerate" die Muskeln spielen lassen, irrt jedoch. In "Überlin", wie der Name schon andeutet in Berlin aufgenommen, wird an das epochale "Drive" erinnert, dessen "Hey kids, nobody tells you what to do" der Realität und einem ernüchternden "Crash land, no illusions, no collision, no intrusion, my imagination runs away" weichen muss. Ein erster großer Höhepunkt und Stipe und Mike Mills in Harmonien-Bestform.

Weitertanzen kann Gleichgültigkeit oder einfach nur Realitätsverweigerung bedeuten. Hier übrigens in Form von Aaron Johnson, der jüngst in Sam Taylor-Woods "Nowhere Boy" John Lennon verkörperte. Der Videoclip stammt ebenfalls von Taylor-Wood und ist Teil eines groß angelegten Filmprojektes von Michael Stipe. Obwohl das Medium Videoclip wie MTV nur noch ein Relikt zu sein scheint, werden alle zwölf Songs von "Collapse Into Now" durch Videoclips ergänzt. Mit dabei sind legendäre Regisseure alter R.E.M.-Musikvideos wie Jem Cohen, James Herbert oder Mr. Stipe selbst, zwei der Clips werden von Stipe-Buddy und everybody's darling James Franco verfilmt.

Spätestens hier fällt auf, dass R.E.M. für "Collapse Into Now" auch gerne mal in die Nostalgie-Box greifen. Stipe im Speziellen, denn hat er sich auf dem Vorgängeralbum bereits selbst zitiert ("Sing for the Submarine"), schreibt er für "Oh My Heart" sogar einen seiner eigenen Songs weiter. "Oh My Heart" ist die Fortsetzung von "Houston", also jenem Stück, das Stipe mit der wütenden Zeile "If the storm didn't kill me, the government will" den Opfern des Hurricanes "Katrina" gewidmet hat. Inzwischen ist einiges passiert: Obama folgte Bush, aber New Orleans ist immer noch eine Ruine. Auf "Oh My Heart" heißt es: "The storm didn't kill me, the government changed [...] It's sweet, and it's sad and it's true, how it doesn't look bitter on you". R.E.M.'s großes Talent war immer schon, die stillen Momente auf epische Weise einzufangen und aus den schmerzhaftesten Kapiteln hoffnungsvolle Oden zu machen. Dieses Mal als intimer, kaum wahrnehmbarer Aufschrei "Oh My Heart" über die lieblich tränende Harmonika-Melodie von Langzeit-Side-Musician Scott McCaughey, der dafür auch Writing-Credit bekommt. Zu Recht, ist er doch schon 17 Jahren bei R.E.M. tätig. Länger als es Gründungsmitglied Bill Berry war.

  • Wunderschöner Hörtipp:

"Every Day Is Yours To Win" (Live at Tibet House Festival, Carnegie Hall, 3.3.2011)

Auch auf den Folgenummern beweisen R.E.M. ein sicheres Gespür für Melodien. "Every Day Is Yours To Win" erinnert mit seinen Lullaby-Glöckchen zwar verdächtig an "Around the Sun", funktioniert im Kontext von "Collapse Into Now" aber hervorragend. "Around the Sun" hat vor allem darunter gelitten, dass es so viele einschläfernde Melodien auf einmal enthielt, dieses Mal wechseln R.E.M. das Tempo von Nummer zu Nummer. Mit "Mine Smell Like Honey" gibt es sogar wieder einen Bubblegum-Song Marke "Stand" oder "Imitation Of Life". Auf dem Anarcho-Punk-Stück "Alligator_Aviator_Autopilot_Antimatter" darf Electroclash-Riot Grrrl Peaches mitsingen, während Patti Smith-Gitarrist Lenny Kaye ein grandioses Solo hinlegt. Auch "Walk It Back" und "That Someone Is You" zeigen die zwei Seiten von R.E.M.: Das eine als chillige Burt Bacharach-Hommage, das andere als viel zu kurze (1:40!) Zeitreise zurück in die "Reckoning"-Ära. R.E.M. beenden das Album mit "Blue", einem Song, der förmlich nach dem Prädikat "Wertvoll“ zu betteln scheint: Ewige Muse und Vorbild Patti Smith singt nach "E-Bow The Letter" ein zweites Mal für R.E.M., dieses Mal über Stipes gesprochene Wortfetzen. Ein seltsamer Abschluss nicht nur deshalb, weil "Blue" allzu sehr versucht, ein zweites "Country Feedback" (der Fan-Favorit schlechthin) zu sein, sondern auch, weil Stipe noch nie so klar von sich als Person gesungen hat, wie hier. Die Figur dieses Songs ist der Musiker Michael Stipe selbst.

Collapse Into Me

Am Ende von "Blue" wird noch einmal die Rahmenhandlung des Albums beschwört, indem "Discoverer" zitiert wird. Das Bookend ist offenkundig ein wichtiges Mosaik, um dieses Album zu verstehen. Denn auf allen 12 Songs hat man das Gefühl, als würden R.E.M. zum ersten Mal in ihrer Karriere keine neue Richtung mehr einschlagen wollen, sondern sich vielmehr an ihre Stärken erinnern. Während Mills und Buck zwar immer noch großartige Melodien wie früher schreiben, ist Stipe der Schlüssel. Seine Texte verzichten ja schon seit mehreren Jahren auf die kryptische Unbestimmtheit, die R.E.M.'s Output in den 80ern so gekennzeichnet hat. Schon länger experimentiert Stipe mit dem Charakter-Ich, jedoch noch nie war dieses Ich so sehr identisch mit seiner Person wie auf "Collapse Into Now": "I want Whitman proud. Patti Lee proud. My brothers proud. My sisters proud. I want me. I want it all. I want sensational. Irresistible", während seine Patti Lee Smith, sein ewiges Valentine, ihm als "Cinderella Boy" Rosen zuwirft. Auch beim Abschied scheint Patti Michaels Hand zu halten, so wie sie es auf ihrem großen Werk "Horses" tut, das Stipe noch als Teenager auf seinem Dachboden hört. Nicht nur musikalisch, sondern auch textlich scheint "Collapse Into Now" eine Retrospektive zu sein, Stipe reflektiert sich ständig selbst: "I can be a bad poet, street poet, shit poet, kind poet too [...] I don’t have much, but what i have is gold" (Blue), "Let's sing and rhyme, let's give it one more time, let's show the kids how to do it fine" (All The Best), "I have never been the gifted type" (Überlin) oder auch "I have earned my voice" (It Happened Today).

Mit "Collapse Into Now" endet R.E.M.'s aktueller Plattenvertrag. Und nicht nur die Re-Releases der letzten Jahre, die Best Of-Sammlungen und die Tatsache, dass die Herren alle über 50 sind und aktuell weder Tour noch Promo-Auftritte spielen wollen, weist darauf hin, dass dies das Ende einer Ära ist. Mike Mills hat kürzlich betont, dass niemand derzeit so genau wisse, ob es mit R.E.M. weitergeht: "We can do everything, or we can do nothing at all". R.E.M. könnten es wie Radiohead machen, oder sich still zurückziehen. Mills hat sogar ein eigenes Solo-Album in Aussicht gestellt.

R.E.M. goes Open Source:

Eine Welt ohne R.E.M., ich glaube, ich könnte das heute viel leichter verkraften als noch vor 15 Jahren. Dass mich Alben wie "Accelerate" nicht mehr so begeistern können wie “Lifes Rich Pageant", liegt auch daran, dass R.E.M. und ich älter geworden sind. Umso klarer Stipes Texte werden, umso weniger sprechen sie mich an. Aber wenn mir heute Stipe ein verständnisvolles "I know" im Chorus von "Every Day Is Yours To Win" zuflüstert, dann fühle ich mich genauso verstanden, wie damals. Oder wenn ich "It Happened Today" höre, die vielleicht beste Nummer auf "Collapse Into Now", und ich Eddie Vedder und Hidden Cameras-Sänger Joel Gibb im Hintergrund kaum hörbar wahrnehme, dann bekomme ich doch noch einmal Gänsehaut. "It Happened Today" ist der schönste Schwanengesang überhaupt. Auf "Collapse Into Now" haben sich drei Generationen von Musikern versammelt, um R.E.M. zu huldigen und vielleicht sogar zu verabschieden: von Patti Smith über Eddie Vedder bis Peaches und Joel Gibb. Sie alle wurden wie ich von R.E.M. beeinflusst.

Aber ich brauche R.E.M. nicht mehr wie früher. "Collapse Into Now" klingt wie ein alter Freund, die Band ist zu einer nostalgischen Erinnerung geworden. Jedoch eine, zu der ich liebend gern immer wieder für ein paar Augenblicke zurückkehre. Egal, ob oder wie es mit R.E.M. weitergeht, ihre Musik hat mir oft das Leben gerettet. Heute ist das nicht mehr notwendig.

"I am made by my times, I am a creation of now"
(R.E.M. - "Blue")