Erstellt am: 2. 3. 2011 - 17:47 Uhr
Journal 2011. Eintrag 48.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und zuletzt 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag als Anregungs- und Denkfutter, Fußball-Journal '11 inklusive.
Zumeist werden sich hier Geschichten/Analysen finden, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit dem gestern nur am Rande erwähnten, anderen Aspekt der Guttenberg-Causa, der in eine neue Qualität eintretenden Macht des Netzes. Dazu auch ein Experten-Interview des Deutschlandradios mit dem Chef des Grimme-Instituts.
Ich war skeptisch, gestern noch.
Und habe mich gegen das Offensichtliche, die Sieges-Meldung und für die cassandrische Warnung ausgesprochen.
Dass nämlich der Fall Guttenberg, vor allem das strukturell korrupte Beziehungsgeflecht zwischen Mainstream-Mass-Media und populistischen Polittribunen, eine neue Qualität ins politische Leben des Nachbarn gebracht haben; dass die Affäre Bild eine bislang tunlichst verschlossene Tür in Richtung Rechtspopulismus und demokratiegefährdende Brandstiftung geöffnet hat; dass die österreichische Steilvorlage der Nebenregierung Kronen-Zeitung sein deutsches Pendant gefunden hat. Und welche Konsequenzen das haben kann.
Die Siegesmeldung lautete, auch schon gestern: Erstmals hat das Netz, seine Schwarmintelligenz, sein partizipativer Grundwesen eine politische Entscheidung gedreht; erstmals wäre ein Macht&Medien-Konglomerat mit seiner Vernebelungs-Strategie nicht durchgekommen. Eine fünfte Macht habe die vierte Gewalt abgelöst.
Mir erschien das gestern zu vorschnell, zu wenig durchdacht.
Tut es auch heute noch.
Trotzdem denke ich dass das Nachdenken und Diskutieren drüber nur durch diese übertriebene Darstellung und Positionierung passieren kann.
Schwarm-Intelligenz vs. postdemokratische Verschränkung
Denn die Zeichen an der Wand sind deutlich: Bislang unumschränkte Alleinherrscher werden durch die basisdemokratische Macht der sozialen Netzwerke (siehe Tunesien, Ägypten...) oder den Zusammenschluss einer kritischen Masse (Gutti-Wikis overrulen Bild) überkommen.
Das alles hat natürlich mit dem Niedergang der politischen Kultur und dem Niedergang der Mainstream-Medien zu tun - sowohl im arabischen Raum als auch hierzulande: Die durch ökonomische Globalisierung an die Wand gespielte politische Kaste verliert ihre Definitionsmacht, ihren Handlungsspielraum und versucht das mittels Medien-Diktatur zu kompensieren - die alten arabischen Diktatoren auf die eine, die europäischen Postdemokraten auf eine neue Weise, mittels kompletter Verschränkung.
Beides funktioniert natürlich dann genau gar nicht, wenn sich gleichzeitig ein neues Netz-Bewusstsein, die berühmte Schwarm-Intelligenz des Netzes etabliert und die sozialen Netzwerke gänzlich neue Möglichkeiten von Kommunikation und Aktion hervorrufen.
<<< By the way-Einschub: wo bleiben heuer eigentlich die bis dorthin so lauten Trottel der alten Schulen, die von Vereinzelung durch Netz-Benutzung geschwafelt hatten, die eine Organisation über "Freundschaften" als unsinnigen Dreck abgetan und die reale Dimension der virtuellen Kommunikation immer in Abrede gestellt hatten? Warum schweigen sie so stille? Hm? Häme-Modus Ende.<<<
GuttenPlag-Wikis und andere Citoyen-Pflichten
Diese neue Intelligenz lässt sich (zumindest in Deutschland, in Österreich humpelt man hinterher wie der Schlittenhundeführer über die Antarktis) in allzu offensichtlichen Fällen nicht mehr verarschen. So wies die Netz-Community die Schummelei an der wissenschaftlichen Arbeit nach - und zwar weil sie es kann. Und siehe da: Die Kraft des Faktischen wirkte stärker als die Fake-Umfragen, mit denen Guttenberg-Partner Bild den Minister retten wollte. Ganz ohne Förderungen, ohne PR-Auftrag von Industrie-Interessen, ganz ohne JungvonMatt-Perfidien. Sondern aus der Verantwortungs-Pflicht des Citoyens, des Staatsbürgers, der - in Deutschland, in Österreich ticken die Uhren anders - eben nicht im versumpften Terrain des Privat-Interesses versandeln möchte.
Nun ist der Anstoß - auch in diesem Fall - aus den Qualitäts-Medien gekommen, deren Job die Beschäftigung mit Aktualitäten nun einmal ist.
Die Vertiefung, die Detail-Arbeit fand dann aber im Netz, in Wikis statt.
Das, was früher einmal Aufdecker geleistet haben (rausfinden, wie sehr die bewusste Doktorarbeit nun gekupfert ist) das erledigten die User, in Schwarm-Form.
Und auch wenn der Spiegel von "Guerilla-Journalismus" spricht, der sich dem Kampagnen-Journalismus von Bild entgegengeworfen hat: der Vergleich mit Wikileaks stockt.
Hypertext schlägt Hyperventilation
Ebenso wie die Assange-Brüderschaft unternahm auch das Guttplag-Wiki den Job den bislang die vierte Macht, der vierte Stand, die vierte Gewalt, die freie und unabhängige Presse/Medien, exklusiv innehatte. Weil sie sich nicht mehr drum kümmern mag oder kann.
Hypertext schlägt Hyperventilation, wie es Poster 'gelegentlich' hier so schön sagt.
Trotzdem hat natürlich nicht "das Internet" irgendwas erreicht - es sind seine Nutzer; und es sind die von Nutzern (und auch ein Zuckerberg ist einer) erdachten Organisationsformen, die wildes Wuchern erlauben und aus Desinteresse Engagement oder aus Ahnungslosigkeit Cleverness machen kann. Kann. Sofern das Netz auf eine Gesellschaft trifft, die fit für diese Anwendungen ist.
Deutschland hat gestern seine Reifeprüfung bestanden, Österreich will zwar das Nachsitzen abschaffen, wird damit aber nicht aus der Medienrealität flüchten können.