Erstellt am: 6. 3. 2011 - 14:20 Uhr
Julya Rabinowich: Herznovelle
Funktionieren, auch wenn es zu Ende geht: Die Nägel sind lackiert, der Koffer ordentlich gepackt, die Wohnung aufgeräumt. "Der Rasen gehört gedüngt", sagt die Hauptfigur in Julya Rabinowichs Buch "Herznovelle", als sie zum Wagen geht. Sie weiß, dass eine große Wahrscheinlichkeit besteht, nie mehr nach Hause zu kommen. Eine Herzoperation steht bevor.
Der Ehemann ist keine große Stütze, kämpft selbst mit der Angst. Alles wird gut, wiederholt er mit standhafter Überzeugung. Eine doppeldeutige Ansage in dieser unerträglichen Situation.
"Ich hoffe auf die Narkose. Ich will, dass man mich auslöscht. Sofort."
Deuticke
Die Operation verläuft problemlos, und die Patientin ist überrascht. Planlos. Schlussendlich verzweifelt. Damit hatte sie nicht gerechnet. Und mit der Erkenntnis, eine zweite Chance bekommen zu haben, formiert sich auch die Wut. Diese Lethargie des Funktionierens, die Unterordnung als Hausfrau, die Hygiene und die Ehre und die Würde – alles wird in Frage gestellt und weggespült von der großen Sehnsucht nach einem Leben vor dem Tod.
Statt die eigenen Lebensumstände zu überdenken und vielleicht sogar zu ändern, verbeißt sie sich in eine Amour Fou, in eine sehr einseitige Liebe zu dem Mann, der ihr Herz berührt hat, im wahrsten Sinne des Wortes. Ihr Chirurg. Er hat in sie hineingegriffen, seine Hände in ihrem Körper, ihr Herz in seinen Händen. Ein körperlicher Akt, der in ihrer Fantasie erotischer nicht sein könnte. Die Aussage: "Der Herr Doktor kümmert sich um ihr Herz" wird zum Heilsversprechen. Sie beginnt, ihn zu verfolgen, ihre Sehnsüchte auf ihn zu projizieren und verliert sich in chaotischen Träumen.
Er nimmt das Herz aus meiner Brust
und zeigt es mir und sagt:
Das gehört ihnen.
Und ich sage:
Das Mängelexemplar können Sie gratis zur Ansicht behalten.
Kurzes Herzrasen
"Eine Erzählung von kurzer Länge", sei das Hauptcharakteristikum einer Novelle, mit Fokus auf "einen Konflikt zwischen Ordnung und Chaos". Julya Rabinowich legt mit ihrer "Herznovelle" ein starkes Stück dieser Gattung vor. Kompakte, schnörkellose Textstellen wechseln sich ab mit Traumsequenzen, die aus diffusen Satzbruchstücken entstehen, eine Art Tanz zwischen Lyrik und bestechender Klarheit.
Die Autorin arbeitet mit dem Moment des versuchten Umbruchs und verwendet dafür ein Sprachbild, das die Menschheit seit Jahrhunderten kennt: Das Herz als Mittelpunkt des Lebens und der Liebe. Und statt sich in Romantik zu verheddern, begegnet sie der Liebe mit gouvernantenhafter Strenge. Denn ihre Hauptfigur ist Stellvertreterin einer Generation, die ihr Leben auf materielle Beweise stützt und die die Psychologie für ihre Schwäche verachtet. Eisern schweigt die Herzpatientin, als man ihr eine Psychologin schickt; kein Wort will sie sagen, denn ihrer Seele sei doch in Ordnung. "Sie weinen seit zwei Tagen", meint die Psychologin.
"Das liegt bloß an meinem Herzen. Auf Wiedersehen."
Eine österreichische Autorin
Julya Rabinowich wurde 1970 in St. Petersburg geboren und ist sieben Jahre später mit ihrer Familie nach Wien emigriert. Sie ist Schriftstellerin, Dramatikerin, Malerin und Simultandolmetscherin.
Lesung:
Julya Rabinowich liest am Montag, den 07.03.2011
um 20:00 Uhr im Theater Nestroyhof Hamakom
(Nestroyplatz 1; 1020 Wien) aus ihrem Buch "Herznovelle".
Musste sie bei ihrem Debütroman "Spaltkopf" (eine Geschichte über Flucht und Entwurzelung, mit der sie den Rauriser Literaturpreis 2009 gewann) noch Fragen nach "MigrantInnenliteratur" in Interviews abschmettern, wird sie bei ihrem zweiten Buch bereits als "auf dem Weg zu einer fixen Größe der österreichischen Literatur" akzeptiert.
"Für mich war es von Anfang an klar, dass ich die Sprache mindestens so gut beherrschen wollte wie meine Widersacher", sagt sie in einem Interview. "Gewalt braucht nicht viele Worte, kunstvolle Erniedrigung sehr wohl."