Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "WikiLeaks and Reads"

Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

26. 2. 2011 - 09:42

WikiLeaks and Reads

Gleich drei Neuerscheinungen titeln mit WikiLeaks am Buchcover. Was erfährt man, wenn man sie liest? Warum veröffentlicht ein kluger Kopf wie Daniel Domscheit-Berg ein so persönliches Buch?

Kolumbien, Ägypten, Italien - beständig stellt WikiLeaks Dokumente online, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. "Scientific journalism" nennt WikiLeaks-Initiator Julian Assange das Prinzip, rohe, anonym eingeschickte Materialien zu veröffentlichen, zu denen sich dann jeder eine Meinung bilden könne. Das Veröffentlichen der "Cables", Depeschen von US-Diplomaten, ist bis dato der letzte Coup der Enthüllungsplattform WikiLeaks. Wie arbeitet WikiLeaks? Worauf will die Plattform hinaus, wenn sie mit Veröffentlichungen auf tagespolitisches Geschehen reagiert? Die ersten drei auf Deutsch erschienen Bücher - "Staatsfeind WikiLeaks", "WikiLeaks und die Folgen" und "Inside WikiLeaks" von Ex-WikiLeaks-Mann Daniel Domscheit-Berg - präsentieren Antworten.

Was bisher geschah

Buchcover

Spiegel Buchverlag u. Deutsche Verlags-Anstalt

In der beginnenden Aufarbeitung der kurzen, bisherigen WikiLeaks-Geschichte beschäftigen sich die Bücher hingebungsvoll mit Julian Assange. Dessen Biografie liest man in allen Büchern, von Kleinkindtagen an auf der Koala-Insel Magnetic Island über die nomadische Jugend, den ersten Commodore 64 mit dreizehn und das erste Modem mit sechzehn, 1987. Schon als jugendlicher Hacker interessiert sich Assange nie für Kreditkarteninformationen fremder Leute, sondern für den militärischen-industriellen Komplex Amerikas. Dass es Assange nicht um einen Feldzug gegen die USA geht, sondern gegen eine bestimmte Form der Politik, stellen die beiden Journalisten Marcel Rosenbach und Holgar Stark in ihrem Buch "Staatsfeind WikiLeaks" fest, das ein guter Einstieg in die Thematik und in die Welt von WikiLeaks ist.

Für das deutsche Magazin Der Spiegel trafen Rosenbach und Stark Assange mehrfach. Der Spiegel ging ebenso wie die New York Times und der britische Guardian eine Medienkooperation mit der Plattform ein. WikiLeaks stellt Feldberichte des US-Militärs aus dem Afghanistan-Krieg online, unabhängig ausgewertet wurden sie von den Journalisten der Zeitungen. Bei der Veröffentlichung der US-Diplomatendepeschen sind es Rosenbach und Stark, die mit WikiLeaks zu tun haben. In "Staatsfeind WikiLeaks" rollen die Autoren die Geschichte von WikiLeaks auf. Lesen lohnt sich.

Wenn man den dramatisierenden Stil aushält, ist man flugs im Bilde darüber, was WikiLeaks ausmacht. Das Spiegel-Buch bietet einen Überblick über die bisherigen Veröffentlichungen, Hintergründe zur Arbeitsweise plus Dutzende, in die Erzählung verwobene Gespräche mit Mitstreitern von WikiLeaks und involvierten Personen. In persönlichen Gesprächen versuchen die Autoren, Assanges politisches Weltbild zu ergründen. Handbücher für Wachen des amerikanischen Lagers auf Guantánamo, Berichte über Morde an 500 Kenianern, Feldberichte aus dem Afghanistan-Krieg und Kriegsberichte aus dem Irak - warum WikiLeaks dieses Aufsehen erregt hat, erklärt sich in der Erläuterung der bisherigen Enthüllungen. Immer wieder versuchen die Autoren, einen Schritt zurück zu machen, um Abstand sprich Kritik zu gewinnen. Vorab schicken sie eine kleine Rechtfertigung, wie sie WikiLeaks sehen und warum.

Der Versuch eines Diskurses

Buchcover

Suhrkamp Verlag

Der Suhrkamp Verlag hat mit „WikiLeaks und die Folgen“ nachgelegt. Ein halbes Dutzend Journalisten, Kulturtheoretiker, ein Diplomat und ein Jurist, der Erfinder des Begriffs „Virtuelle Realität“, Jaron Lanier, und Mercedes Bunz setzen sich mit dem Phänomen aus ihrer Perspektive auseinander. „Die Hintergründe. Die Konsequenzen“ steht im Untertitel, und die Fragen, die Julian Assange mit WikiLeaks aufwirft, sind in Summe zu finden. Ist WikiLeaks ein Anbieter von Informationen oder ein Trägermedium? Ist es ein Modell für ein organisiertes Netzwerk? Und warum bekommt "Tatsachenmaterial", wie Mercedes Bunz es nennt, in Zeiten der Digitalisierung diese Kraft? Welche Informationen soll wer in einer Demokratie vor wem für sich behalten? Wie verhalten sich die klassischen Medien?

Dass der Verlag das Buch in aller Eile auf den Markt gehievt hat, merkt man deutlich. "WikiLeaks und die Folgen" ist eine Sammlung von teils zuvor erschienenen Artikeln. Die Berichterstattung hat die zuständige Redaktion aufmerksam verfolgt. Wer sich bereits mit WikiLeaks beschäftigt hat, wird viele Texte kennen. Bei einigen Essays handelt es sich um ein Nachdenken während des Schreibens. Das ist nicht unbedingt ein Nachteil, sondern weitaus klüger, als "klare" Antworten zu behaupten auf Fragen wie jener nach der Entscheidung in Demokratien, wer Zugang zu welchen Informationen haben sollte. Die unterschiedlichen Ansichten und Meinungen spiegeln ein schönes Spektrum der Positionen zu WikiLeaks.

Denkanstöße geben die zwölf Thesen, die Geert Lovink und Patrice Riemens auflisten. Was Menschen in Institutionen bewegt, unter persönlichen Risken Material weiterzugeben, ergründet Felix Stalder. Kreativer, selbstständiger und unternehmerischer sollten MitarbeiterInnen heute sein und sich einsetzen für Projekte, die längst keine historischen Dimensionen trügen. Auch in den Krieg zu ziehen entbehre heute vielfach eines sinnhaft erscheinenden Narrativs. Leaking wird weiterhin eine wichtige Methode der Informationspolitik sein, so die Schlussfolgerung Stalders.

Kleiner Video-Tipp: interessante Fragen stellen sich die Vertreter von The Guardian, The New York Times, El País, Der Spiegel und Le Monde bei einer Diskussion zur Frage nach der Zukunft des Journalismus.

Etwas peinlich wird es, wenn der amerikanische Informatiker und Künstler Lanier seine Teilnahme an einer Sitzblockade gegen ein Kernkraftwerk anführt, um zu illustrieren, wie ziviler Ungehorsam funktionieren sollte. Sich bereitwillig verhaften lassen und Gegner keinesfalls zu verhöhnen sei der Weg. WikiLeaks ist kein richtiges „Wiki“, argumentiert Lanier, der Wikipedia-Mitbegründer Jimmy Wales hat dies mehrfach klar gestellt. Lanier sieht das, wofür WikiLeaks steht, als Informationspiraterie im Stil der Selbstjustiz und somit als Angriff, der die Gesellschaft schlechter mache, und bezeichnet Assange als „WikiLeaks-Führer“.

Faszination und Projektion

Die Faszination für die Idee, die WikiLeaks zugrunde liegt, fließt in eine Bewunderung für Assange, die nur einige der Autoren verbergen geschweige denn in ihren Kommentaren trennen können oder auch möchten. In aufschlussreichen Artikeln liest man zwischendurch Zeilen, wie für Science-Fiction-Groschenromane bestimmt. „Mit seinem geisterhaft weißen Haar, fahlen Teint, kalten Blick und seiner hohen Stirn wirkt er im Schein der Studiolampen mitunter wie ein spindeldürres Wesen vom anderen Stern, das auf der Erde gelandet ist, um der Menschheit eine verborgene Wahrheit zu überbringen“, schreibt Raffi Khatchadourian. Der Journalist von The New Yorker hat die WikiLeaks Produktion des „Collateral Murder“-Videos im Sommer letzten Jahres in Island miterlebt, seine Eindrücke liefern einen interessanten Einblick hinter die Kulissen – abgesehen von Seitenblicken, wer Assange die Haare schneidet, während der unaufhörlich in die Tastatur hackt. Und zwar sehr laut, wie man von Daniel Domscheit-Berg in dessen Buch „Inside WikiLeaks“ erfährt. Khatchadourian ist nicht der Einzige, der kluge Überlegungen mit Anekdoten anreichert. Dass die isländische Parlamentarierin Brigitta Jónsdóttir zur Schere greift, lassen auch die Der Spiegel-Journalisten Rosenbach und Stark nicht aus. Wer es gern ein bisschen reißerisch hat, wird gut bedient. Das ist der Stoff, aus dem der WikiLeaks-Spielfilm gemacht sein wird.

Buchcover

Ullstein Buchverlage GmbH

Bei aller berechtigten Konzentration auf den 39jährigen Australier Assange: der Mann leakt nicht seit 2006 alleine. Involviert in die Entwicklung von WikiLeaks waren auch andere. Was noch fehlt, ist ein theoretisches Werk zu WikiLeaks, das sich voll und ganz auf die zentralen Fragen konzentriert, die über die aktuellen Veröffentlichungen der Plattform hinausgehen und die grundsätzlich in einer demokratischen Gesellschaft relevant sind. Ganz abgesehen von technischen Erläuterungen. Ein theoretisches Werk hat auch Daniel Domscheit-Berg nicht geschrieben. Doch gut möglich, das er das noch tun wird, sagt mir der 32-jährige ehemalige WikiLeaks-Mann und bis Herbst 2010 Assange-Vertraute im Telefongespräch.

Daniel Domscheit-Bergs Sicht der Dinge

Verblüffend ist dennoch, was Daniel Domscheit-Berg über seine WikiLeaks-Jahre zu erzählen hat. Mit der Zeit-Online-Redakteurin Tina Klopp hat die ehemalige „Nummer Zwei“ der Enthüllungsplattform das Buch „Inside WikiLeaks“ geschrieben. Von 2007 an hat sich der Diplom-Informatiker drei Jahre lang der Idee von WikiLeaks gewidmet. „Es ist der Versuch, eine Welt zu schaffen, in der wir alle besser verstehen, was vor sich geht. In der wir auch alle besser Bescheid wissen über die Korruption und den Missbrauch, der hinter verschlossenen Türen stattfindet und den man versucht, vor uns geheim zu halten“, sagt Daniel Domscheit-Berg im Radio FM4-Interview.

Kommenden Montag, 28. Februar, diskutiert Daniel Domscheit-Berg in Wien zum Thema "WikiLeaks - Kommt die Demokratisierung der Information?" Um 19:30 im Haus der Musik. Der Eintritt ist frei.

Daniel Domscheit-Berg

Andreas Chudowski_laif

"Inside WikiLeaks" liest sich flott. Erst bin ich enttäuscht, ich hatte mir einen Diskurs über Strategien erhofft. Doch 300 Seiten später verstehe ich, warum es sinnvoll ist, dass sich Domscheit-Berg sehr persönliche Dinge von der Leber und vom Herzen schreiben ließ. Wer erzählt einem sonst, dass es anfangs nur einen einzigen Server gab und nur zwei Männer Vollzeit an WikiLeaks gearbeitet haben?

Daniel Domscheit-Berg im Interview über seine Motivation, intransparente Strategien und den größten Erfolg von WikiLeaks, bald auf dieser Seite und am Dienstag, 1.3.2011, in FM4 Connected (15–19 Uhr).

Erläuterungen zu Prinzipien und Vorgehensweisen zu WikiLeaks finden sich in seinem Buch Stück für Stück. Wer sich Visionen erwartet, stolpert schnell über die erste Pizzaschachtel. Die Erzählung läuft im Alltag, vom ersten Treffen mit Assange, über den ersten gemeinsamen Coup, die Veröffentlichung der Unterlagen der Schweizer Privatbank Julius Bär parallel zu einem noch geregelten Arbeitsleben bis zu den letzten Wochen der Zusammenarbeit. Zwischen Pizzaresten in einem Appartement in Reykjavík eskalieren die Meinungsunterschiede nicht. Domscheit-Berg verlässt Island, wenig später „suspendiert“ ihn Assange.
Daniel Domscheit-Berg hat seine Mitarbeit an WikiLeaks beendet. Die nächsten Kapitel der Geschichte der Enthüllungsplattform wird er nicht mitschreiben. Daniel Domscheit-Berg arbeitet indes an seinem neuen Projekt: mit "OpenLeaks" widmet er sich weiterhin der Thematik Transparenz.