Erstellt am: 23. 2. 2011 - 18:00 Uhr
Erwachsen werden in der Postapokalypse
Irgendwo in Österreich liegt eine kleine gottverlassene Siedlung abgeschottet vom Rest der Welt, eingepfercht zwischen steilen Berghängen, verlassenen Minenschächten und alten Wäldern, in deren Baumwipfel angeblich Geister wohnen. Immer wieder durchstreifen Soldaten die Gegend, vor denen sich die BewohnerInnen verstecken. Manche meinen, die Siedlung wäre der letzte Zufluchtsort, in der man ansatzweise die Sehnsucht nach einer heilen Welt stillen kann, andere meinen, sie wären verdammt.
C.H. Beck Verlag
Diese Siedlung ist die Heimat eines kleinen Jungen, ein unbenannter Ich-Erzähler und Hauptfigur des Romans "Brenntage". Nachdem seine Mutter gestorben ist, lebt er bei seinem Onkel, ein gestandener Mann, kräftig wie ein Bär, der ihm immer einen Schritt voraus ist. Der Onkel kümmert sich um die Erziehung des Jungen. Er lehrt ihm, wie man in den Hängen klettert, ohne sich das Genick zu brechen und welche Tiere man leben lassen und welche man lieber töten sollte. Ein sehnsüchtiger Augenaufschlag des Jungen genügt und der Onkel würde alles erwürgen, was er im Wald vorfindet, es dann ausstopfen und zu Kuscheltieren verarbeiten. Alles, was der Junge über die Welt und das Leben weiß, hat er von seinem Onkel erfahren: Dass man Bäume niemals fällen soll, weil sie das Zuhause der Geister sind und diese müsse man schließlich respektieren. Und dass man den Nachbarsmädchen aus dem Weg gehen soll, da sie böse Gedanken haben und viel zu saubere Kleidung, mit der man sich im Wald nicht verstecken kann.
Lese-Empfehlungen auf FM4:
Sieht der Junge zunächst noch zu seinem Onkel auf, ändert sich deren Beziehung im Verlauf der Geschichte. Je älter der Junge wird, desto misstrauischer wird er gegenüber seinem Onkel. Er fragt sich, ob er nicht die Chance ergreifen müsse, vom Patriarchat seines Onkels zu entkommen, damit er das steile Bergmassiv erklimmen kann, um zu sehen, was dahinter steckt. Die Welt der Erwachsenen erscheint ihm immer befremdlicher.
Brenntage und andere Rituale
Einmal im Jahr veranstalten die BewohnerInnen der Siedlung die sogenannten Brenntage, ein Ritual zur inneren Reinigung. Auf einem großen Scheiterhaufen werden alle unnützen Gegenstände und sämtlicher Seelenmüll, der sich im Laufe der Zeit angesammelt hat, verbrannt. Kaputte Holzstühle, zerrissene Kleidung und lieb gewonnene Erinnerungen an verstorbene Menschen fallen den lodernden Flammen zum Opfer und mit ihnen das schlechte Gewissen mancher BewohnerInnen.
Die Kinder der Siedlung entwickeln zunehmend eigene Rituale. Initiationsriten, Mutproben, um ihre Kindheit abzustreifen und erwachsen zu werden, wie zum Beispiel den Wasserkreis, eine Reinigungs- und Traumzeremonie. Ein Kind wird per Losentscheid zum Träumer bestimmt. Die anderen Kinder stellen sich eng im Kreis um den Träumer und bugsieren ihn ins Wasser. Sie tauchen seinen Kopf unter und hören selbst dann nicht auf, wenn der Träumer nach Luft ringt und um sich schlägt. Erst wenn der Träumer bewusstlos ist, zerren sie ihn aus dem Wasser und eine zuvor bestimmte Wächterin, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, versucht ihn wieder wach zu küssen. Die Träumer erleben während ihrer Bewusstlosigkeit eine spirituelle Erfahrung. Ein surreales Erlebnis, ein Ort ohne Boden, Echos aus einer anderen Zeit.
Mystische Welt voller Bedrohungen
Michael Stavarics Roman "Brenntage" ist kein einfaches Buch. Die Geschichte mäandert vor sich hin, die Handlung muss man sich in vielen kleinen Abschnitten zusammensuchen.
Lukas Beck
Die Geschichte über das Erwachsenwerden eines Jungen, der sich in der hineingeborenen Welt mal geborgen, mal fremd fühlt, soll die LeserInnen in ihre eigene Kindheit zurückversetzen. Damals, als man zum ersten Mal im Wald Pilze gesucht hat und sich vielleicht verlaufen hat. Als man zum ersten Mal auf die alte Fichte geklettert ist, aber nicht mehr herunter gekommen ist. Michael Stavaric bedient hierbei das Phänomen, dass uns Neues und Unbekanntes zunächst Angst macht, zumindest seltsam vorkommt, sollte die daraus gewonnene Erfahrung auch noch so positiv sein. Die naiven Versuche des Jungen, sich die Welt zu erklären, und die auf Beobachtungen basierenden falsch gezogenen Schlüsse sind die heiteren Momente des Buches.
Auch wenn dem Roman vereinzelt Spannung und Emotionen fehlen, stellt man "Brenntage" nicht ungelesen zurück ins Regal. Die bildhaften Beschreibungen und die poetische Sprache in den einzelnen Minigeschichten faszinieren viel zu sehr. Stavaric selbst bezeichnet sich als Poet, er veröffentlicht auch Gedichtbände und Kinderliteratur. Die Symbiose seiner bisherigen Veröffentlichungen formten die Sprache von "Brenntage".
Dass der Roman vielmehr als Poesie zu lesen ist, wird auch auf der letzten Seite des Buches deutlich. Einem Stalaktiten ähnlich verengt sich der Textfluss am Ende der Geschichte trichterförmig nach unten. Die Kraft der Sprache macht damit auch keinen Halt vor formalen Kriterien wie dem Erscheinungsbild des Textes. Dieses Stilmittel, dass die Anordnung der Buchstaben ein grafisches Element ergeben, das sich wiederum auf den Text bezieht, lässt sich nur in wenigen ausgesuchten Gedichten wieder finden. Eigentlich wollte Michael Stavaric auf der letzten Seite die Zeilen und Buchstaben ineinander laufen lassen, also den Durchschuss und die Spationierung ändern, bis nur noch schwarze Seiten kommen, um die Dunkelheit zu symbolisieren. Das war dem C.H. Beck Verlag aber dann doch zu experimentell. Geschwärzte Bücher fürchten die Verleger.