Erstellt am: 22. 2. 2011 - 11:10 Uhr
Chronic City
Es ist ein sehr benebelter "New York State of Mind" den Johnathan Lethem in seinem Roman Chronic City beschreibt. Die trägen Tage und Nächte im kleinen Apartment auf der Upper East Side eines ehemaligen Rockkritikers und Filmspezialisten namens Perkus Tooth sind durchzogen von Marihuana-Schwaden der Marke "Ice" und "Chronic", gelegentlichem "Cluster-Kopfschmerz" und einer gehörigen Portion Paranoia. Dieser Perkus Tooth, das eigentliche Zentrum des Romans, ist eine aus der Zeit gefallene Figur. In den 70er und 80er Jahren war er als Subkultur-Dichter in Manhattan unterwegs, um sich dann später in die Lohnschreiberei des Rolling Stone zu begeben. Jetzt editiert er noch ab und zu Texte für DVD Editionen obskurer Filme, ist aber die meiste Zeit mit Kiffen, sich selbst und seinen verstiegenen Theorien beschäftigt.
Rund um ihn gruppiert: ein kleines Arsenal von typischen New Yorkern, Spinnern, Obdachlosen, vor allem aber begleitet ihn Chase Insteadman, Chronic City ist voll von diesen sprechenden Namen, ein ehemaliger Kinderstar, dessen Karriere als Sitcom Junge in den 80er Jahren auch schon lange vorbei ist. Auch er ist ein Müßiggänger, ein schlapper Held, dessen Begegnung mit Perkus Tooth den Roman in Schwung versetzt. Chade Insteadman, aus dessen Ich-Perspektive große Teile von Chronic City erzählt werden, hat außerdem seine große Liebe an das Weltall verloren. Seine Freundin ist Astronautin und schickt ihm rührselige Briefe aus einer Raumstation am Rande des Kollapses.
Ein Tiger in Manhattan
Tropen / Klett-Cotta Verlag
Was als elegant formulierter New York Roman beginnt, bekommt schon nach wenigen Seiten erste surreale Risse. Jonathan Lethem, mit allen postmodernen Mitteln gewaschener Autor, schiebt zwischen real existierende popkulturelle Referenzen immer wieder fiktionale Personen, Bücher, Bands und Namen, die sich in keiner Wikipedia finden. Es wundert dann auch nicht mehr, dass ein entlaufender Tiger Manhattan terrorisiert, Downtown von ewigem Nebel heimgesucht wird, und auch im August noch Schnee fällt. Man muss schon ein ziemlicher Auskenner sein, um allen Abzweigungen, Andeutungen und Verdrehungen folgen zu können. Ein Beispiel: Der verkrachte Perkus Tooth ist besessen von Marlon Brando, glaubt, dass er noch lebt, und als Bürgermeister von New York die Stadt retten könnte. Immer wieder ist die Rede von einem Auftritt des Großschauspielers im "Gnuppets-Movie". Gemeint ist wohl der erste Muppets-Kinofilm, den es tatsächlich gibt, in dem aber nicht Marlon Brando sondern Orson Welles einen Gastauftritt hat.
Chronic City ist zwar ein Buch über Manhattan, aber mit dem sozialen Realismus, mit dem etwa Richard Price unlängst in seinem Buch "Cash" die Lower East Side unter die Lupe nahm, hat Jonathan Lethem nichts zu tun. Lethems New York ist fiktional, eine virtuelle Realität, eine große Verschwörung deren Verbindungslinien unterirdisch – die Errichtung einer U-Bahnlinie auf der Second Avenue ist ein immer wiederkehrendes Motiv – oder geheim verlaufen. Fragen wie "Wem gehört die Stadt?" werden zwar gestellt, aber nur mit weiteren Fragen beantwortet. Es wird einem im Verlauf der Lektüre immer wieder schwindlig, ob der halsbrecherischen Gedankenspiele und phantastischen Leitmotive die diesen Text strukturieren. Neben dem erwähnten Tiger spielen auch noch spezielle psychedelische Vasen, ein Land-Art Künstler der "urbane Fjorde" in Harlem aushebt, ein zwielichtiger Bürgermeister und das On-Line Universum "Yet Another World" gewichtige Rollen im virtuos konstruierten Verwirrspiel.
Die Jonathans
Jonathan Lethem, Jahrgang 1962, ist mit seinem Roman "Festung der Einsamkeit" über eine Kindheit und Jugend im Brooklyn der 70er Jahre vor ein paar Jahren in die Riege der jüngeren amerikanischen Großschriftsteller aufgestiegen. Die "Jonathans" wurden Leute wie er und Kollegen Franzen und Safran-Foer spöttisch genannt und all diese jungen "Genies" teilen nicht nur den Vornamen, sondern arbeiten sich auch alle am guten alten Format "Roman" ab.
Keke Keukelaar
Dass jetzt Jonathan Lethem die Professorenstelle für Creative Writing am Pomona College übernommen hat, und damit den verstorbenen David Foster Wallace beerbt, überrascht da nicht wirklich. Dessen schwieriger Wälzer "Unendlicher Spaß" hat sogar in Chronic City seinen kurzen Auftritt, wenn auch in verklausulierter Form. Auch in Chronic City purzeln die Erzählperspektiven durcheinander, werden brillant formulierte Dialoge abgefeuert, und man kann nur staunen über das literarische "Können" von Lethem. Das Kalkulierte und Gelackte mancher aktueller amerikanischer "Großromane" kann ja mitunter anstrengend werden, die Verweise auf amerikanische Literatur von Thomas Pynchon bis Saul Bellow mögen zahlreiche Anglistik- und Komparistikseminare auf Jahre hinaus beschäftigen. Und zugegeben, es kann dauern, bis man sich in die verschwurbelten Sätze und absichtlichen Halbwahrheiten eingelesen hat. Aber hinter dem Feuerwerk an literarischen Techniken blitzt immer wieder eine Traurigkeit über den aktuellen Zustand von Manhattan auf, die einen auch die kapriziösesten Wendungen des Romans schlucken lässt. Wenn im letzten Drittel des Buches die unterschiedlichsten Fäden und Motive einen scheinbaren Sinn enthüllen, Geheimnisse gelüftet, und Wahrheiten dekonstruiert werden, spätestens dann erliegt man gern der eigenartigen Logik von Chronic City. Literatur als Sog, auch ohne Joint im Mundwinkel.