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Christiane Rösinger Berlin

Ist Musikerin (Lassie Singers, Britta) und Autorin. Sie schreibt aus dem Leben der Lo-Fi Boheme.

20. 2. 2011 - 16:04

Mein Leben als soziale Plastik

Vom queeren Mumbai über die Männlichkeitsrituale beim FC St. Pauli zum Berliner Kunstprojekt urban gardening.

Nun ist die Berlinale wieder vorbei, und was hat man davon mitgekriegt? Eigentlich nix. So geht es aber vielen Berlinern, denn obwohl die Berlinale als Besucherfestival gilt, ist es doch für den nicht akkreditierten Normalo-Berliner mühsam an Karten zu kommen. Man steht zwei Stunden in einer Schlange und wenn man am Schalter angelangt ist, ist alles ausverkauft.

Filmstill

Solaris

Rund um die Berlinale passiert aber auch einiges zum Thema Film. So kam der indische Filmemacher und Gay-Aktivist Sridhar Rangayan aus Mumbai in den Club Südblock um seinen in Indien verbotenen Film "The Pink Mirror" zu zeigen.
Die bunte, im typischen Bollywood-Stil um ausufernde Tanzszenen herumgestrickte Story um zwei Drag Queens und einen schwulen Teenager, die einen bisexuellen Mann zu verführen versuchen, wurde in Indien verboten. Nach dem Film berichtete der Regisseur gut gelaunt von seiner Arbeit für "Humsafar Trust", einer Aktionsgruppe von Schwulen, Lesben, Transen und Queers in Mumba und von den Widrigkeiten mit der indischen Zensurbehörde.
Beim Getränk danach erzählte man sich allerlei Berlinaleklatsch: So kannte jemand jemanden, der Madonna und ihren neuen Freund gesehen hatte, und sie sogar bis zu ihrer Unterkunft dem „Soho House“ in Mitte verfolgt hatte. Die bislang glücklose Regisseurin weilte in Berlin weil sie 200 ausgewählten Verleihern Teile ihres neuen Films „W.E.“ vorspielte.

Gegengerade Werbeplakat

Christiane Rösinger

Ganz anderes hörte man von der Filmpremiere „Gegengerade – Niemand siegt am Millerntor“. Schon bei der Vorstellung sei es im Kino fast zur Schlägerei zwischen der Filmband „Pöbel und Gesocks“ und dem Publikum gekommen, aber schließlich handelt der Film ja auch von Prügeleien rund um den Hamburger Fußballclub St. Pauli.
Auf der Premierenparty im Hotel Esplanade spielten dann die Altpunker von Slime, bei der standesgemäßen After-Show Randale wurden wohl Teile der Partylocation demoliert.

Nach diesen bunten Berichten zog es dann die Ausgehgruppe zum Potsdamer Platz. Das Foyer des Kino Arsenal, in dem Filme der Berlinale Sektion Forum gezeigt werden, wird jedes Jahr zur Berlinale von Künstler umgestaltet und die Bar war bislang ein schöner Treffpunkt auf dem sonst so sterilen Potsdamer Platz. Einmal war das Foyer ein Siebziger Jahre –Wohnzimmer, im nächsten Jahr performte dort täglich der Performance - Künstler Vaginal Davis und dieses Jahr hatten der Prinzessinengarten eine Gartenbar aufgebaut.

urban guardening im Buchladen

Christiane Rösinger

Das Community Gardening -Projekt, das auf einer Brachfläche in Kreuzberg Kräuter und Gemüse anbaut- ist in Berlin allgegenwärtig. Die Pflanzen überwintern zurzeit in einer Markhalle in Kreuzberg, sie zogen aber auch schon als Kunstprojekt in das Hebbel Theater ein und bespielen nun den Keller des Filmhauses.
Eine Buchhandlung hatte ihre Stände zwischen den Kräuterkisten aufgebaut, die Bar war verwaist und so stand man etwas verloren herum und rätselte, warum urbanes Gärtnern jetzt Kunst war. „Als soziale Plastik!“, mutmaßte eine kunstaffine Bekannte. „Rein dekorativ, der Naturbegriff!" „Was soll das mit den ausgestellten Kräutertöpfen?“ gab eine Freundin zu bedenken. „Rückkehr in die Fünfziger! Sind wir in die Stadt gezogen um jetzt in ein Schrebergartenidyll zu flüchten?“, fragte eine dritte provokant.
Aber da kam auch schon die berühmte Berlinale-Ermüdung über uns, und ohne einen einzigen Film gesehen zu haben fühlte man sich selbst als leicht angeschlagene soziale Plastik.

Blumen im Buchladen

Christiane Rösinger

Vom queeren Mumbai zu den Männlichkeitsritualen beim FC St. Pauli zum Berliner Kunstprojekt urban gardening - bei so vielen verschiedenen Welten kann sich der Mensch schon mal wie eine angeschlagene soziale Plastik fühlen