Erstellt am: 20. 2. 2011 - 13:20 Uhr
"Der letzte Sommer auf Long Island"
Wenn man eine Scheißfrisur hat, wissen alle, dass man eine Scheißfrisur hat. Aber kein Mensch sagt etwas.
Gleich vorweg, bei diesem Buch gilt das Prinzip des Lesens-in-der-Original-Sprache, wenn einem dies möglich ist. Auch wenn die deutsche Übersetzung von Nikolaus Stingl keineswegs schlecht ist. Aus dem "Sag Harbor" von Colson Whitehead wurde "Der letzte Sommer auf Long Island".
Whitehead
"Sag Harbor", die amerikanische Originalausgabe
Ben Cooper, genannt Benji, verbringt seine Sommer auf Long Island, dort wo die Hamptons sind, wo sich Wochenend- und Ferienwohnsitze der richtig Wohlhabenden New Yorks befinden. Benji ist 15 Jahre alt, schwarz, geht auf eine beinahe ausnahmslos weiße Schule in New York City, und sein Großvater hat in mühevoller Kleinarbeit ein Haus in Sag Harbor gebaut, dem Teil von Long Island, den vorwiegend schwarze New Yorker ihren Ferienort nennen.
Das Haus, das meine Großeltern gebaut hatten, war ein kleines weißes Cape-Cod-Haus, mit dunklen Schindeln auf dem Dach und Fachwerk aus rotem Holz im ersten Stock. Es bestand aus Hohlblöcken, die mein Großvater stapelweise von der Ladefläche seines Pick-ups gewuchtet hatte. Jedes Wochenende fuhr er eine Ladung hin, ratterte damit über den Highway. Das war bevor der Long Island Expressway gebaut wurde.
Und schon ist man mitten drinnen in einer Colson-Whitehead´schen Stadtführung. Das hat der ex-Journalist (Village Voice, Vibe, Spin) ja etwa auch in seinem zweiten Buch "Der Koloss von New York" so gut gemacht. Whitehead, ein gebürtiger New Yorker und inzwischen 41 Jahre alt, nahm einen mit auf eine ausgedehnte Tour durch sein New York. Sachliteratur, die sich wie Prosa las, eine Art modernes "Manhattan Transfer", wie John Dos Passos es in den 1920er Jahren geschrieben hatte. Colson Whiteheads New York. Paul Auster, move over.
Whitehead
Weitere Bücher von Colson Whitehead:
"The Intuitionist", 1999 ("Die Fahrstuhlinspektorin")
"John Henry Days", 2001 ("John Henry Days")
"The Colossus Of New York", 2003 ("Der Koloss von New York")
Whitehead
"Apex Hides The Hurt", 2006 ("Apex")
Wie eine autobiografische Geschichte liest sich "Der letzte Sommer auf Long Island". Colson Whitehead, ebenfalls Kind der schwarzen Mittelklasse von New York, nimmt uns mit in Benji Coopers Häuschen auf Long Island, das der Opa ganz gemäß dem American Dream eigenhändig erbaut hatte. Wochenende für Wochenende hatte er daran gearbeitet, bevor er montags wieder im Geschäft in New York stehen musste. Benji ist ein "Preppie", ein Prep-School-Boy samt Schuluniform. Im Sommer auf Sag Harbor kommt der "echte" Benji zum Vorschein, der, der sich nicht verstellen muss, der sich mit anderen schwarzen Kids austauschen kann.
Ein paar Weiße kamen den Strand herauf, deshalb holten wir das Fernglas. Weiße besaßen das Ufergebiet hinter der Stadt, aber der Strand gehörte uns, und jede Infiltration musste überprüft werden.
Benjis Sommer ist der Sommer 1985. Hip Hop ist ein Thema, etwa der Zwist zwischen Roxanne Shante und The Real Roxanne ("Roxanne Roxanne"); und Lisa Lisa, die R&B-Pionierin, kommt gar in den Eissalon in dem Benji als Ferialjobber tätig ist. Wieder vermischt Colson Whitehead Reales und Fiktion. Wenn er hier in die große Kiste der Popmusik-Geschichte greift - und etwa Carpenters-Songtexte zitiert - kommt der Popculture-Fan und Musikjournalist in ihm durch.
Zwischen frühem Hip Hop, den Smiths und weißer als weißem Easy-Listening-Pop a la The Carpenters befindet sich der nerdige Benji. Sein kleinerer Bruder Reggie ist ebenfalls auf Long Island. Sturmfreie Bude sozusagen für die Cooper Boys, während die arbeitenden Eltern nur am Wochenende rausfahren können. Der Vater hört im Auto und im Haus gern die Carpenters oder zorniges Talkradio mit afroamerikanischen Themen. Das ist kein Widerspruch.
Jedes Mal wenn Karen Carpenter den Mund bewegte, war es als öffnete und schlösse sich mit leisem Klirren der Deckel einer Zuckerdose, unter dem tiefe weiße Dünen zum Vorschein kamen. Dann kam der nächste Song, und die Finger meines Vaters wanderten zu den Knöpfen der voreingestellten Sender, und wir wateten knietief in Polizeibrutalität, Schulmisere und der reflexhaften Grausamkeit der Stadtverwaltung.
Whitehead
"Der letzte Sommer auf Long Island"
"Der letzte Sommer auf Long Island" ist ein sorgfältiges Zeitdokument und ein berührender Coming-of-Age-Roman zugleich. Es ist ein Sommer, in dem sich genau genommen nicht wirklich viel tut, was der Story diese gewisse Long-Hot-Summer-Entspanntheit zwischen Langeweile und Sehnsucht gibt. Dieser Roman ist eine Liebeserklärung in acht Kapiteln an Sag Harbor, die afroamerikanische "Enklave" von Long Island; eine post-black Geschichte, von deren Sorte es mehr geben sollte.
Richard Wrights "Black Boy", Claude Browns "Manchild In The Promised Land" oder Maya Angelous "I Know Why The Caged Bird Sings", heißt es in der New York Times, "document the horror of being black and enslaved or segregated or impoverished or imprisoned. But Colson Whiteheads Benji starts with tremendous class advantages and summers in a vacation paradise where life doesn´t assault him but rather affords him the time to figure out who he wants to be. He may be an outlier, but he´s not alone."
"Der letzte Sommer auf Long Island" von Colson Whitehead ist in deutscher Übersetzung von Nikolaus Stingl im Hanser Verlag erschienen.