Erstellt am: 20. 2. 2011 - 15:00 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (7)

marc carnal
2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenter Gruppendruck unter den Mitstreitern.
3. Februar
■ Sammeln Sie Sticker?
■ Einer Perle, gefunden in der Kommentar-Wichsmaschine Facebook:
„Die Diskussion um die Kauffmann-Orgel ist schon langandauernd, ohne musikalisches bzw. orgelbautechnisches Hintergrundwissen kann sie leider auf eine persönliche bzw. politische Ebene abgleiten. [...] Eine kritische Auseinandersetzung mit den Orgel der unmittelbaren Nachkriegszeit ist unbedingt notwendig, aber bitte ohne Polemisieren und Politisieren.“
■ Idee: Menschen laden täglich Bilder ihres Morgenkots ins Internet und lassen ihn von Gleichgesinnten analysieren, aber nicht hinsichtlich Viskosität oder Farbe, sondern ausschließlich seine Form, auf tiefstem esoterischen Niveau. Zwei im stumpfen Winkel zusammenlaufende, eher dünne Würste können mitunter ein Garant für eine schicksalhafte Begegnung am Arbeitsplatz sein.
Das würde sicher nicht nur als Gag, sondern auch als kleine Freizeit-Religion für zwischendurch zünden, schließlich lesen erschreckend viele, teilweise gar nicht mal nur unvernünftige Menschen täglich das Stern-Orakel der Gratiszeitung und sagen dann Sätze wie „Naja, an solche Horoskope glaub ich natürlich nicht, aber ich glaub schon, dass da ein bisschen was dran ist, mein Freund ist nämlich ein ganz typischer Steinbock.“
Ich bin ein großer Gegner von Barth’schen Geschlechtsunterschieds-Olympiastadionfüllungen, kann aber auch nicht gänzlich bestreiten, dass es doch, wenn auch nur in unbedeutenden Nuancen, bemerkenswerte Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. Einer davon ist, dass Männer niemals Stücke von ihrem Pausenbrot zupfen würden. Wahrscheinlich hat irgendein Kabarettist oder, noch schlimmer, Comedian auch damit schon zehn Minuten Bühnenzeit gefüllt, aber das ist mir doch wurscht.
Ein anderer Unterschied ist, zumindest meiner bescheidenen Empirie zufolge, dass es keinen einzigen Mann gibt, der sich für Astrologie interessiert. Wer mir das Gegenteil beweisen kann, gewinnt wahlweise eine gratis Kot-Analyse oder ein Pausenbrot.
14. Februar
■ Sammeln Sie Sticker?
NEIN!
■ Eine Irre der Interessensgemeinschaft Rucksack/Stirnband/Müsli fährt mir in der U-Bahn von hinten mit voller Wucht und Absicht ihren Kinderwagen in die Füße. Ich falle, kann mich gerade noch an der Wand abstützen und blicke mich verdutzt um. Es sei ja wieder mal typisch, dass „die Jungen“ keine Rücksicht nehmen, schreit die Angreiferin in wirklich enormer Lautstärke durch den Waggon. Sie ist ungefähr gleich alt wie ich. Dann zieht sie ein äußerst seltsames Handy aus ihrem Mantel, das eher an eine vergoldete Fernbedienung eines sehr alten Videorekorders als an ein Telefon erinnert, ruft jemanden an – wahrscheinlich den geknechteten Kindesvater – und schreit ohne Begrüßung das eben bereits Gebrüllte im selben Wortlaut noch einmal in ihr Gerät.
Skandalös ist, dass mir drei Stationen lang genau gar nichts Treffendes einfällt, sondern dass ich ihren schmerzhaften und grundlosen Angriff völlig perplex als Tatsache akzeptiere und dann aussteige.
Schlagfertigkeit ist eine Tugend, die nicht beim gemütlichen Umtrunk, sondern im unerwarteten Zweikampf einer wirklichen Prüfung unterzogen wird.
■ Ein Satz mit S-Bahn:
Du solltest dich beim Beerenpflücken
stets nur nach den S-Bahn bücken.
15. Februar
■ Ich bin ein wunderschöner Mann, gefangen im Körper eines durchschnittlichen.
■ Woche der Verrückten: Eine Frau mit Sonnenbrille auf der Nasenspitze, die ihre erschreckend geweiteten Pupillen nicht verdecken, betritt das Café Schmid Hansl, echauffiert sich in beträchtlicher Lautstärke über den Gulaschgeruch und ordert Apfelsaft. Herr Josef entgegnet mit gewohnter Nonchalance, man würde anscheinend „nicht zusammenpassen“, sie möge das Lokal verlassen.
“Wollen Sie mich rauswerfen?! Ich rufe die Polizei!“
Sie geht. Zwanzig Minuten später trifft die Rettung ein. Man sei gerufen worden, um eine ausgesprochen betrunkene Dame abzuholen. Da betreten auch schon zwei Polizisten den Raum. Man sei gerufen worden, weil eine Dame des Restaurants verwiesen worden sei, obwohl sie doch nur für die Einnahme ihrer Medikamente Apfelsaft gewünscht hatte.
Herr Josef schlägt den Einsatzkräften vor, die Nummern zu vergleichen, mit der man sie kontaktiert hatte.
Sie sind ident.
Selbst- und Fremdanzeige in nur einer Minute, Respekt!
■ Mein Umfeld wird durch viele kulturinteressierte, vielseitige und intelligente Menschen veredelt. Ich kenne aber fast niemanden, der regelmäßig und gar niemanden, der gerne ins Theater geht. Spricht das nun gegen mein Umfeld oder gegen das Theater?
16. Februar
■ Der Arbeitsweise des Kassierers meiner bevorzugten Hofer-Filiale ist mit irdischen Maßstäben nicht hinreichend zu beschreiben.
Ich musste ihm heute ein Kompliment aussprechen: „Du bist eine Maschine.“
Er: „Das sind wir alle. Bei mir sieht es nur etwas hektischer aus.“
In den sieben Sekunden, die unser Kurzdialog dauerte, hatte er bereits den Großeinkauf des nächsten Kunden über den Scanner gezogen und abkassiert.
Der Lucky Luke des Einzelhandels. Ein Körper als hundertteiliges Präzisionswerkzeug. Arbeit, die mit freiem Auge nicht mehr erkennbar ist. Ein kurzer Gruß, und schon liegen die Waren vertikal nach Gewicht sortiert in der Tasche und das Wechselgeld klimpert bereits, denn der Warenband-Königs weiß Kraft seines telepathischen Talents auch stets, mit welchen Noten man zu zahlen gedenkt.
Der Highspeed-Kapazunder sieht dabei nicht wie das manische Arbeitstier aus, das er ist. Vielmehr würde man ob seiner trägen, fast teigigen Züge eher auf einen laschen Bildschirm-Starrer schließen. Der denkbar falscheste Eindruck, denn der Filialleiter der Herzen kennt nur ein Wort: Funktionieren. Nicht nur die aus seiner Sicht groteske Gemächlichkeit der Kundschaft beim Einpacken der erworbenen Produkte unterbindet er durch präzise geworfene Butterblöcke oder artistisches Joghurt-Dunking, selbst der Weg des Wechselgeldes wird um die Zwischenstation Kunden-Hand gekürzt, indem er den Schotter mitunter aggressiv in die Geldbörsen der staunenden Käufer schleudert.
Der König der Kassenkräfte verdient unser aller Bewunderung. Live-Shows täglich in der Martinstraße.

Florian Graßecker
■ So sieht das also aus, wenn die Spaßbremsen von Being Markovic proben. Sie tun das für ihren exklusiven Volksmusik-Gig am 17. März im Café Schmid Hansl. Wer erleben möchte, wie der Autor dieser Zeilen den Kampf Mensch gegen Akkordeon verliert, möge sich auf der Homepage von Wien im Rosenstolz rechtzeitig Karten sichern!
Und so klingt das dann - Der Geheim-Welthit "Ui - Die Moritat von Wien" im Wohnzimmer-Record-Dance-Remix:
■ Es gibt bemerkenswert viele Menschen, die nicht in der Lage sind, zu schreien.
17. Februar
■ Sperre die Haustüre auf. Da kommt mir in den Sinn, dass ich noch Zigaretten begehre. Ich gehe zur Trafik. Dort fällt mir ein, dass ich Waschmittel brauche. In der Drogerie überkommt mich Lust auf einen Imbiss.
Als ich nach einer halben Stunde nach Hause komme, steckt mein prall bestückter Schlüsselbund noch immer in der Haustüre, schön exponiert direkt an einer gut frequentierten Straßenbahnstation.
Ist die Angst vor Einbrechern völlig unbegründet oder sind sie immer nur zur falschen Zeit am falschen Ort, ergo nie in meiner Nähe?
■ Jeden Donnerstag treffen sich in der Gürtel-Kaschemme einbaumöbel junge Männer, um sich im gemeinsamen Sprechgesang zu üben. Ich kann dieses bizarre Schauspiel jedem empfehlen, der seine Freizeit pfeffern möchte.
Die feinen Herren Rapper stellen dabei für mehrere Stunden im Reigen auf, um improvisiere Verse zum Besten zu geben. Dabei scheitern sie durch die Bank. Kein Reim gelingt.
Blöße geben sie sich dabei nur vor ähnlich Untalentierten, denn das Publikum im klassischen Sinn bildeten heute ausschließlich meine Begleitung und ich.
Besonders gefielen mir jene außerordentlich aggressiven Tonkünstler, die auf der Ottomane hockend minutenlang Klingonisch anmutendes in das Mikrofon krähten und dabei ausgesprochen finster aus der Wäsche sahen.
Danach ab zum Wienerlied-Abend.
So kann man in kürzester Zeit das größtmögliche musikalische Spektrum erleben.
18. Februar
■ Bin begeistert von der Seite hau-tu.de. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, einen universellen Ratgeber für sämtliche Lebenslagen zu erstellen. Man stößt in den bisher nicht überwältigend zahlreichen Artikeln verlässlich auf windschiefe Imperative und fantastische Sätze:
„Wie würden Sie sich fühlen, wenn Ihr Gesprächspartner Ihnen direkt nach dem heimlichen Onanieren die ungewaschene Hand entgegen streckt?“
Besonders die Beiträge zum Thema Liebe & Erotik bieten verlässlich Bonmots:
„Es ist schon fast ein Zaubertrick, eine Rose aus dem Nichts zu zaubern. Dieser Trick kommt besonders gut bei Frauen an.“
„Es gibt fast nichts peinlicheres, als den BH der Patnerin nicht aufzubekommen.“
„Habe keinen Sex wenn du betrunken bist. Wähle einen Sexualpartner der nüchtern ist.“
„Es gibt keinen Sex der nicht gefährlich ist.“
Aber auch für Heimwerker bietet hau-tu.de Tipps’n’Tricks, selbst für die komplexesten Probleme:
„Wer kennt es nicht: Man hat ein klasse Bild aber irgendwie hängt es noch nicht?“
19. Februar
■ Sammeln Sie Sticker?
Na gut, ausnahmsweise.
■ Ich bade nur deshalb mit Schaum, um nicht meinen Körper dabei betrachten zu müssen, wie er völlig willenlos und aufgeweicht im lauen Nass treibt.
■ Ich sammle von nun an mit Kollegen Wurm zwar keine Sticker, aber Einkaufszettel von Fremden. Unsere Sammlung umfasst bisher drei Exemplare des Kollegen uns eines von mir, das ich allerdings nicht mehr finden kann. Das tut meiner Begeisterung aber keinen Abbruch.
Für dieses Projekt braucht man vor allen Dingen Geduld. Meine letzten Supermarktbesuche haben mir gezeigt, dass es nicht zielführend ist, in Einkaufswägen und Abfalleimern danach zu suchen. Vielmehr wird der Zufall unser verlässlichster Lieferant werden.
Sollte jemand in der Leserschaft Interesse haben, unsere Sammlung durch die Veräußerung von eigenen Funden zu bereichern, möge man mich ohne Scheu kontaktieren.
■ Mann rauf
Fenster auf
Mann raus
Leben aus