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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

20. 2. 2011 - 11:55

Die Radiohead-Schlagzeile

Warum "The King of Limbs" sogar trotz musikalischer Reife für Radiohead zum Problem werden könnte.

Katharina Seidler mit ersten Infos zum neuen Radiohead-Album

Radiohead verkünden am Montag, dass sie am Samstag ein neues Album veröffentlichen, nur um es dann schon am Freitag zu tun.

Keine groß angelegte Kampagne, keine Vorab-Single, keine Promo-CDs, keine Cover-Stories in facheinschlägigen Magazinen, ja nicht einmal eine Tracklist oder ein liebloser Wasch-Promozettel vom Label. Stattdessen lediglich fünf Tage Anlaufzeit, ein einziges Pressefoto, ein mehr oder weniger ernstzunehmendes Video, eine Webseite für den Kauf des Albums und das große Rätselraten im Web 2.0, was sich denn hinter "The King of Limbs" verbergen könnte.

Zwei Tage nach der digitalen Veröffentlichung ist das Album mit seinen acht Songs nun auf der Festplatte abgespeichert und kategorisiert. Zugegeben, eine recht bescheidene Aktion, handelt es sich doch um ein neues Werk einer der besten und wichtigsten Bands unserer Zeit. Doch 48 Stunden, das ist zu wenig, um das volle Ausmaß eines Kunstwerkes beurteilen zu können. Vor allem, da diese Beurteilung nicht kontextfrei geschehen kann, sondern selbst ein Kind ihrer Zeit ist. Dass das nicht immer im Sinne des Erfinders sein muss, dazu später mehr.

"Thank you for waiting": Radiohead Botschaft nach 5 Tagen Ankündigung

Radiohead

Radiohead bedanken sich vorab für fünf Tage Warten

The King of Limbs

Wer an Thom Yorkes elektronischem Solo-Ausflug auf "The Eraser" Gefallen gefunden hat, wird auch von "The Kings of Limbs" nicht enttäuscht werden. Musikalisch erfinden sich Radiohead mit ihrem achten Werk nicht unbedingt neu, aber wie hier schon richtig angemerkt wurde, ist das selbst für Radiohead keine Bedingung. Eine Beobachtung ist es trotzdem.

"The King of Limbs" ist eine somnambule Wanderung durch urbane Architekturen, kristallin und kalt, Thom Yorkes Stimme verblasst an manchen Stellen ähnlich schnell wie gehauchter Atem auf Glas. Sie ist für den Hörer aber eine altbekannte Konstante, die nur allzu gern in der geisterhaften Atmosphäre des Albums umarmt wird.

Radiohead: The King of Limbs-Cover

Radiohead

Bei den 8 Stücken wird rasch eine Zweiteilung erkennbar: Umso länger das Album andauert, umso wärmer, heimischer und angenehmer wird es. Der Opener "Bloom" verweilt zu Beginn noch für einige Momente auf einer Klaviermelodie im Stil eines Philip Glass, die aber ruckartig von nervösen Rhythmen unterbrochen wird. Die vier Mannen um Thom Yorke bemühen sich sichtlich eine ausgedehnte, möglichst breite Soundcollage für seine Stimme zu schaffen, afrikanische Marimba-Grooves, Jazz-Einflüsse, Fragmentarisches von Gitarre und Samples eingeschlossen. Die folgenden Stücke "Morning Mr. Magpie" und "Little by Little" fügen dem Ganzen gespenstische Mönchsstimmen und fast schon bluesige Melodien hinzu, "Where is my melody?" fragt Yorke keck irgendwo aus höheren Sphären. Die erste Hälfte von "The King of Limbs" gipfelt und endet mit dem Ambient-Instrumental "Feral", einem abgespacten Stück urbaner Wildnis. So schlafwandlerisch die ersten vier Songs sind, so chillig und warm sind es die letzten vier. "I'll set you free" verspricht Yorke in "Lotus Flower".

Thom Yorke ist schon seit Jahren ein eher expressionistischer Texter, Schlüsselphrasen rücken bei ihm in den Vordergrund und verpuffen dann wieder. Das ist hier nicht viel anders. Die Texte auf "The King of Limbs" handeln von Beistand und Zuneigung. Liebhaber der melancholischen Intimität alter Klassiker wie "Fake Plastic Trees" oder "No Surprises" verlieben sich bestimmt in die herrliche Klavierballade "Codex", in der es heißt: "No one gets hurt". Auf "Give up the Ghost" wird sogar in Lagerfeuer-Manier an der Akustischen gezupft, träumerisch unterlegt von Yorkes eigenen Samples ("Don't hurt me"). Mit "Separator" endet das Album weder mit einem Höhe- noch mit einem Tiefpunkt, der Hörer wird langsam gebettet und in den Schlaf gesungen. "The King of Limbs" ist ein Werk, das Kälte und Wärme im Sound gegenüberstellt und diese Pole textlich mit dem beständigen Bestreben nach Obhut und Fürsorge verbindet. Die kryptische Endzeile "If you think this is over, you're wrong" von "Separator" deutet auf Unvollständigkeit hin und kokettiert mit einem möglichen Teil 2.

Die Dekonstruktion der eigens produzierten Zeichen, beschäftigt das Quartett aus Oxford bekanntermaßen schon seit etwas mehr als zehn Jahren. Dabei waren Radiohead immer für eine Überraschung gut. Diese Überraschung vermisst man etwas auf "The King of Limbs". Schlagworte wie "Dubstep" fallen, die Verwandtschaft zum Vorgänger "In Rainbows" und zu knatternden B-Seiten wie "Kinetic" ist unverkennbar. Zumindest von Radiohead hat man das alles schon mal gehört. Soviel zur ersten Meinung. Ob das Album im Laufe der Zeit reift, ist nach 2 Tagen nicht zu beurteilen.

Die Radiohead-Schlagzeile

Kunst ist immer auch Content des Mediums, in dem sie auftritt. Nun kann man über die musikalische Qualität von "The King of Limbs" diskutieren, unbestritten bleibt der durchaus erfolgreiche, kurzfristig angelegte Effekt, der dieses Album zur Schlagzeile gemacht hat. Ein Album fünf Tage nach Ankündigung zu veröffentlichen, das fällt auf, ist zumindest für kurze Zeit ein großes Thema in einer Medienwelt, die ja recht schnell von Themen gelangweilt ist. Man muss eben nicht fünf Monate lang den roten Teppich ausrollen, wie das schon seit Ewigkeiten praktiziert wird. Es braucht keine großen Exklusivinterviews, keine Übersättigung an Teasern, die das Album bei Erscheinen ein knappes halbes Jahr später zu old news machen. Anscheinend reichen auch fünf Tage für den kurzfristigen Hype.

Radioheads einziges Promobild für "The King of Limbs"

Sebastian Edge

Das einzige Pressefoto für "The King of Limbs"

Wer nun allerdings denkt, Radiohead würden auf diese Weise die Industrie komplett aushebeln, lügt sich in die eigene Tasche. Die Industrie, zu der auch Medien gehören, wird lediglich gezwungen, schneller zu arbeiten. "The King of Limbs" passt sich dem Medium an, in dem es vorkommt: Das Blogger-Paradies Internet kann neue Nachrichten rascher aufsaugen und verbreiten, das Marketing wird nicht fürs Web 2.0 adaptiert, es IST das Web 2.0. Das Album ist eine Momentaufnahme, ein Blog-Eintrag, der theoretisch schon morgen wieder durch eine neue Veröffentlichung korrigiert werden könnte. Topaktuell, aber nichts mehr für die Ewigkeit. Dass Radiohead nicht am selben Tag ihr Album veröffentlichen, an dem sie es ankündigen, ist inkonsequent, aber berechtigt. Auch eine Schlagzeile braucht etwas Zeit, um sich zu verbreiten.

Das Radiohead-Dilemma

Das große Dilemma von Radiohead ist, dass die Schlagzeile nicht die Musik ihres Albums ist, sondern seine kurzfristige Veröffentlichung. In Berichterstattungen steht nicht das Kunstwerk im Vordergrund. Und wenn, dann bleibt es eine Momentaufnahme, ein erster Eindruck, weit weg jeglicher langfristiger Reflexion, die besonders ein neues Radiohead-Album verlangen würde. Überrumpelt von der Vorgehensweise ergeben sich selbst wichtige Musikmedien diesem Diktat, negieren das Konzept "Album" und bringen lediglich Track-by-Track-Reviews: Rolling Stone, NME oder Spin.
In einer rasanten Medienwelt, in der sich auch Konsumenten nur wenig Zeit für Reflexion nehmen, könnte das bedeuten, dass Radiohead in erster Linie zur innovativen Band für Marketing und Vertrieb verkommt. Fragt man in fünf Jahren, wo "The King of Limbs" einzuordnen ist, könnte die einzige Erinnerung daran, die auffallend kurzfristige Veröffentlichung sein.

Bereits bei ihrem letzten Album "In Rainbows" experimentieren Radiohead mit neuen Modellen, aber ihre "Pay what you want"-Variante stellt damals noch die Frage "Was ist Kunst wert?", während "The King of Limbs" eigentlich nur aussagt, dass nicht jeder Output einer Band als perfektes, abgeschlossenes künstlerisches Statement anzusehen ist. Das Kunstwerk könnte so zum Beiwerk degradiert werden. Es wirkt zwar alles spontaner, aber die Kurzfristigkeit nimmt ihm die Exklusivität und Einzigartigkeit. Das mag ein verlockendes Business-Modell sein, dadurch droht aber auch, dass ein neues Album nicht über die Schlagzeile hinauskommt. Was macht es dann schon, wenn das Werk inhaltlich business as usual ist? Schon morgen kann ohnehin wieder ein neues erscheinen.

Ende März kann man "The King of Limbs" als CD kaufen, im Mai als aufwändige Vinyl-Edition. Aufgrund der 625 Elemente des Artworks nennt die Band diese Version das "Newspaper"-Album. Manche werden sagen, der Name passt. Denn morgen enthält die Zeitung von heute nur noch die Schlagzeilen von gestern.