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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

18. 2. 2011 - 08:30

Endorphin-Kino

Mit dem Überlebensdrama "127 Hours" erweist sich Danny Boyle wieder einmal als Filmemacher der chemischen Reaktionen und körperlichen Erschütterungen.

You had chemicals boy
I've grown so close to you boy
And you just groan boy
(Underworld "Born Slippy")

Man kann dem Schaffen von Danny Boyle durchaus zwiespältig gegenüberstehen, wie es auch der Schreiber dieser Zeilen tut.

Ich erinnere mich noch an meine erste Reaktion, als ich nach "Trainspotting" aus dem Vorführsaal spazierte und etwas angewidert eine neue filmische Oberflächen-Verliebtheit heraufdämmern sah, ein Sich-Aufgeilen an modisch inszenierter Kaputtheit und comichafter Plakativität. Vorwürfe, die man auch seinem Oscar-Erfolg "Slumdog Millionaire" machen könnte.

Aber eines muss man dem britischen Regisseur lassen. Boyle traf mit seinen grellen Arbeiten fast immer punktgenau den Puls der Zeit. Und retrospektiv betrachtet wird die tatsächliche Agenda und Vision hinter seinen Filmen deutlich. Danny Boyle steht, wie auch Gaspar Noé und der frühe David Fincher, für ein Kino der physischen Grenzerfahrungen.

Bereits in "Trainspotting" geht es ja viel weniger um ausgefeilte Charakterstudien als um entrückte, ekstatische, aber auch zerstörte Körper. Die Junkies in diesem Streifen, die zombiehaften Virenopfer im großartigen "28 Days Later", sie alle sind Gefangene chemischer Prozesse und Getriebene ihrer Gier.

"127 Hours" Danny Boyle

Centfox

Danny Boyle zeigt zwar das existentielle Vakuum seiner Figuren, ihre fatale Leere, die kompensiert werden muss. Seine zentralen Filme umkreisen das Thema Sucht aber auch gleichzeitig auf eine bewusst undistanzierte Weise. Mit allen erdenklichen Mitteln versucht der Regisseur die fiebrigen Bewusstseinszustände der Protagonisten deutlich zu machen.

Auch das Science-Fiction-Epos "Sunshine", für mich noch immer das wirkliche Meisterwerk des Regisseurs, erzählt von der Suche nach halluzinatorischen Erfahrungen. Und auch dieser Streifen will dich mit überwältigenden Bildern und pulsierenden Klängen förmlich einsaugen. Das Kinoerlebnis als Rave und Rockkonzert, das Medium Film als Ersatz für lustige Pillen.

Boyle ist sozusagen der Chronist all jener, die ganz für den Kick leben, sei es durch Drogen, Sex oder wie in seinem neuen Film, Extremsport.

"There must be some fucking chemical", singt dazu gleich passend die Band Free Blood auf der Tonspur zu "127 Hours". "A chemical in your brain that makes us different from animals, makes us all the same".

"127 Hours"

Centfox

In einer hektischen Anfangsmontage zeigt Danny Boyle, wem sein neuer Film gewidmet ist. Nämlich allen Marathonläufern, Mountainbikern und Bergsteigern, die den Rausch der Endorphine suchen. Die Hubschrauberkamera folgt einem dieser Abenteurer, dem jungen Amerikaner Aaron Ralston, bei einer Klettertour zum mächtigen Blue John Canyon.

Ein unbeschwerter, hippiesker Typ ist dieser junge Bursche, einer, der launige Selbstgespräche mit sich führt, gut aufgelegt in die sengende Sonne blinzelt, zwei Touristinnen zu einem Badeausflug in einem Höhlensee überredet. Als Aaron, gespielt vom famosen James Franco, wieder alleine ist, kehrt plötzlich Totenstille in den Film ein. Denn der Kletterer stürzt in eine enge Schlucht ab, steckt dort unten fest, weit weg von jeder Zivilisation.

Allerspätestens an dieser Stelle dämmert einem als Zuschauer wieder, dass es sich hier um eine wahre Geschichte handelt. 2003 war der echte Aaron Ralston in derselben Felsspalte gefangem, in der auch Teile dieses Films gedreht wurden, mit seinem rechten Arm unverrückbar zwischen Gesteinsbrocken eingequetscht.

Die Zeit verrinnt, der Hunger nagt, keine Hilfe ist in Sicht. Mit jeder verstreichenden Filmminute wird die Spannung unerträglicher, irgendwann denkt man als Zuschauer nur mehr an das stumpfe Taschenmesser, das Aaron bleibt, um sich den eigenen Arm zu amputieren.

"127 Hours"

Centfox

Im Gegensatz zum Lebendig-Begraben-Schocker "Buried" begnügt sich "127 Hours" nicht mit Bildern der Klaustrophobie. Mittels bunter Flashbacks verlässt der Film quasi den Ort des Grauens und mutet so auf den ersten Blick weniger konsequent und leichter genießbar an.

Dabei geht es Danny Boyle aber überhaupt nicht darum, die Isolation, die Todesängste und den Schmerz des jungen Mannes zu verharmlosen. Er zeigt vielmehr, was sich in dessen Kopf abspielt, visualisiert die Gedanken und Sehnsüchte eines Menschen, dessen Körper und Geist plötzlich Feinde werden.

Auch die Stilmittel des Films, vom knalligen Musikeinsatz bis zur Splitscreen, haben ihre dramaturgische Berechtigung. Aaron Ralston gehört, wie eben viele junge Kletterer, selber zur Generation Pop, in seinen Camcorder sprechend inszeniert er auch das eigene Martyrium als grausige Talkshow, nur um nicht den Verstand zu verlieren.

"127 Hours" spricht in diesem Sinn exakt die Sprache seines Protagonisten und dessen spiritueller Kumpels rund um den Planeten. Und egal, was man von Extremsport hält, übrig bleibt ein Manifest für den menschlichen Willen, eine Verbeugung vor dem Leben, eine intensive Kinoerfahrung zwischen Euphorie und Verstörung.

"127 Hours"

Centfox