Erstellt am: 13. 2. 2011 - 23:33 Uhr
Journal 2011. Eintrag 33.
... und 2011 ist wieder ein Journal-Jahr wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Wenn man das Fußball-Journal '11 dazurechnet: bedeutet das einen täglichen Eintrag, Anregungs- und Denkfutter inklusive.
Zumeist werden sich hier Geschichten/Analysen finden, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute wieder mit einem der eigentlich seltenen Musik-Exkurse; aus Anlaß der heute Nacht stattfindenden (und ab 2.00 Uhr auf pro7 live übertragenen) 53. Grammy-Verleihung: die überfällige Würdigung von Kanye West.
Featuring einen inoffiziellen Grammy-Live-Ticker von Christian Lehner im Forum.
Es gibt nur eine Kinderhandvoll Gründe, sich die jährliche Grammy-Show, eigentlich die international höchstwertige Musikpreisverleihung, anzusehen. Heuer werden das eventuell die Auftritte von Arcade Fire und Lady Gaga sein, vielleicht die Reunion von Eminem und Dr. Dre. Keine unglaubliche Ausbeute - kein Wunder, schließlich ist die Show mittlerweile eine festgefrorene Folklore-Veranstaltung, in denen ein paar stehen- und steckengebliebene Genres auch nichts Anderes veranstalten als das, was hierzulande im Musikantenstadl stattfindet: eine Verkaufsshow, eine Heizdeckenfahrt im Stehen.
Die Rock- oder Alternative-Abteilung hat sich mangels flächengreifender Verkaufbarkeit von selbst dezimiert, Country und RnB hingegen teilen sich im Doppelpassspiel den Markt hinter den alljährlich neu platzierten Plastikpopwundern auf. Dass die beiden Bereiche (der eine für den konservativen weißen Mainstream-Markt, der andere für den schwarzen) strukturell mittlweile praktisch identisch sind, erleichtert vieles.
HipHop tut sich da schwer, geht in RnB-Sülze auf oder verliert sich in anderen starren und mittlerweile auch nur noch reaktionären Posen.
Mit - seltenen - Ausnahmen.
Kayne West ist/war immer eine solche. Ich meine jetzt gar nicht seine teilweise befremdlichen Interventionen bei Preisübergaben, sein On-Stage-Lobbying, sondern eher seine Live-Auftritte, die immer etwas Spezielles hatten, sich von den Mitbewerbern im ureigenen Bereich deutlich abhob.
Vom Gegenständlichen ins Abstrakte
Heuer ist Kanye, der deutlich die innovativste Steilvorlage des Jahres 2010 ablieferte, sogar in den Grammy-Katergorien RnB, HipHop/Rap und auch Pop zusammengenommen, praktisch nicht auf dem Zettel. Er ist einmal nominiert, Best Rap-Performance für "Power", die erste Single des Albums "My Beautiful Dark Twisted Fantasy". Das wäre maximal ein Trostpreiserl. Keine Album- oder Performance-Nominierung, nichts für seinen bahnbrechenden Runaway-Film, mit dem er sich auf eine Stufe mit Michael Jackson oder Prince stellte.
Das ist nur folgerichtig. Der Konzern-Mainstream, der Veranstaltungen wie den Grammy dominiert, verträgt solche Ausrisse nach oben nicht - siehe den Umgang mit deem stilprägenden Wu Tang Clan.
RZA, einer der großartigen Clan-Producer, war ein wichtiger Kollaborateur für West - das ist vor allem bei Runaway zu hören (die anderen Co-Producer wie Q-Tip, Pete Rock oder DJ Premier sind nicht minder gut gewählt), mit dem sich West in die schmale Riege derer wagt, die HipHop in eine andere Bewusstseins-Ebene transponieren wollen. Musikalisch ist das mit Picassos Schritt vom Figürlichen in die Abstraktion zu vergleichen, textlich von der Abbildung und Behauptung, also den simplen Narrativen, in die Interpretation, auf die Meta-Ebene.
Das ist Kanye Wests großes Verdienst als bester PopAct 2010, als der er heute Nacht nicht ausgezeichnet werden wird, weil das zu gefährlich wäre und kein gutes Beispiel für den Willen und den Weg der Industrie abgeben würde.
Kanye West verlässt die Tischgesellschaft
West ist natürlich ein Ego-Bastard. Wenn er im aktuellen Interview-Magazin das Interview zur Cover-Story über Rihanna macht, dann plappert er zuerst minutenlang über sich, ehe er die naive RnB-Diva ausfragt. Aber er stellt ein paar schlaue Fragen, er nähert sich seinen Zielen indirekt an - anstatt sich auf die alten Muster (im HipHop ist das die Direktheit) die längst zu Stein gefroren sind zu verlassen.
Er kann gar nicht anders als Grenzen einzureissen und Unverschämtheiten vorzunehmen.
Während sich die Kollegenschaft in ihren Videoclips in reiner Folklore, dem üblichen Sexismus und dem Abklappern aller Klischees verliert, lässt Kanye in Runaway die strikt schwarze Tischgesellschaft von Weißen bedienen, ganz nebenbei und ohne sich draufzusetzen; und im nächsten Moment deutet er, mit Gesten und Blicken, den Rassismus seiner Freunde gegenüber seinem Gast, einem außerirdischen Vogel-Fabelwesen, an.
In ein paar Minuten bricht West also alle Konventionen - zuerst verstört er sein weißes Publikum mit der 1:1-Umkehrung seiner Gewohnheiten (the black serving the white), dann verstört er sein schwarzes Publikum indem er ihnen ihrerseits dasselbe vorwirft. Und das alles mit poetischen Bildern statt mit dem Holzhammer - den man von ihm auch kennt. Etwa, wenn er, der viel näher an "Under the Cherry Moon" dran ist, sich durch einen Michael Jackson-Ballon die Krone aufsetzt.
Wests indirektes Spiel mit Werten und Riten ist wohl auch ein Produkt seiner Mittelstands-Herkunft. Wie vor ihm schon Run DMC, Eric B. & Rakim, De La Soul, Chuck D oder eben auch Bobby Digital definiert er sich nicht allein über die Straße, das große und großteils erfundene HipHop.Narrativ des Kämpfers aus dem Ghetto.
Der neue Prince, Tradition und Risiko
Kanye West verbindet in seiner Arbeit seit jeher die Tradition der gesamten Black Music, von den Marching Bands über Funk/Soul bis hin zum Poetry Slam, mit dem Hang zum Risiko, dem Willen zum Experiment. Das wird ihm durch ein massives Ego und den gnadenlosen Willen sich abzugrenzen erleichert. Und auch das alles erinnert stark an den Prince der Paisley Park-Phase der mittleren 80er.
Prince damals wie auch West jetzt haben sich vom innerhalb der Musikszene und vor allem innerhalb des engen HipHop-Zirkels herrschenden Gruppenzwang nach einer absurden Authentizität befreit.
HipHop anno 2011 ist ungefähr so authentisch wie die Buffalo Bill-Wild West-Show Ende des 19. Jahrhundert. Beides spielt mit Versatzstücken einer versunkenen Kultur und macht daraus ein Geschäftsmodell. Die Schein-Authentizität des Spektakels hat aufgrund ihrer Bilderstärke die historische Wahrheit längst überlagert - und definiert so die Posen und Herangehensweisen. Jemand der sich, wie eben Kanye West, als Künstler begreift, kann gar nicht anders, als diese langweilige Kommerz-Autobahn verlassen und sich mit dem Geländewagen in der Wildnis zu versuchen.
Genau das hat West 2010 gemacht. Mit einem Album und einem Film und Auftritten, die ihresgleichen suchen. Für 2011 ist eine Kooperation mit Jay-Z geplant, die "dark & sexy" (Prince, schon wieder!) sein wird. Vielleicht findet King Kanye da endlich einen würdigen Mitstreiter im Outback seiner Obsessionen.
Immer noch Pflicht: das fast schon geistesgestörte Meisterwerk Runaway.