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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

12. 2. 2011 - 18:36

Journal 2011. Eintrag 32.

Zufällige Erinnerung an die allerbeste österreichische Band von "früher", die keiner kennt: X-Beliebig.

... und 2011 ist wieder ein Journal-Jahr wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Wenn man das Fußball-Journal '11 dazurechnet: bedeutet das einen täglichen Eintrag, Anregungs- und Denkfutter inklusive.

Zumeist werden sich hier Geschichten/Analysen finden, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit einem der höchst seltenen Musik-Exkurse; der zufälligen Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, den frühen 80ern in Österreich; dem Wiederauffinden der damaligen Lieblingsband aus dem damaligen österreichischen Manchester, aus Wiener Neustadt; mit X-Beliebig.

Leben ist Blut, aber auch Zufall.
Wenn ich nicht vor ein paar Wochen, auf Anfrage des alten Print-Kollegen Georg Wimmer, anlässlich der Verleihung eines Radiopreises im Radiokulturhaus den Scout für eine Gruppe von der Radiofabrik Salzburg gemacht hätte und die dann nicht jede Menge Fotos davon gemacht, dann wär ich nicht in den Aufmerksamkeits-Fokus der Kollegenschaft beim freien Radio/Ausbildungsfunk in Salzburg geraten. Und dann hätte mir nicht gestern der Ex-Pirat Norbert K. Hund eine Nachricht geschickt, im Rahmen derer er mich auf seine morgige Sendung aufmerksam machen wollte; und ich wäre mit der Info über seine Themenwahl nicht mit der Nase direkt in (auch meine) Vergangenheit gestoßen worden.

Denn der Hund präsentiert da ein vergessenes Meisterstück aus einer Zeit, "als Punk noch eine Philosophie und Gothic noch kein Genre war" (Zitat Hund), also den 80er Jahren: das gesamte einzige und gleichnamige Album der (Zitat) "legendären Wiener Neustädter Existenzialistenkapelle" X-Beliebig.

Nun, nach heutigen Maßstäben kommen X-Beliebig tatsächlich existenzialistisch daher, am Strand der rollkragenpulloverdurchwehten tiefschwarzen Zukunftslosigkeit stehend, auf das den Untergang symbolsierende Meer starrend.

Mit Camus, Curtis und Smith am Strand stehen

Nur, damals, Anfang der 80er, als Punk sich gerade begann schlafen zu legen und nachher nur noch als folklorisierter Zombie aufgestanden ist, als sich international New Wave durchsetzte und die bis dahin recht in Stein gemeißelten Strukturen der Rock-Distinktion zerstörte, als die neue deutsche Welle ein gänzlich unbekanntes und unerhörtes Sprachexperiment startete, dass über Akteure wie Falco, Trio, Ideal und andere ideellen Begleitschutz für die Umstürzler wie die Neubauten, die Fehlfarben oder später Blumfeld leistete - damals waren alle Akteure angewandte Existenzialisten. Alle hatten keine Zukunft und lebten dementsprechend für den Tag, risikobereit und ohne Pensionsvorsorgedenken.

Die österreichische Brutstätte für den britischen Artschool-Ansatz war Wiener Neustadt. Einer aus der Clique, Michael Ansdersch, hatte auf einem London-Trip Joy Division live gesehen (als einziger lebender Österreicher, so geht die Legende). Er gründete eine Band (Dämmerattacke) und andere folgten: Westblock, Zerbrechlich und eben X-Beliebig.

Im Hallraum der Verstörung

Dieses Trio hielt sich in gedanklichen Hallräumen der Marke Joy Divison/Cure/Banshees auf, was sich vor allem in den Flanger-Einsätzen von Gitarrist/Sänger Rene Adametz manifestierte. Im Vergleich zu den ungelenken Rhythmen und harschen Brüchen, mit denen die damals umfangreiche, blühende und sich hysterisch verbreitende Musikszene wurden die Sound-Landschaften von X-Beliebig als Verstörung wahrgenommen.

Ihre erste Single von 1981 Leben ist Blut (mit der ebensowichtigen B-Side Illusionen)raunte man sich hinter vorgehaltener Hand als Geheimtipp zu - absurd, wo doch damals jeder Wave-Pophit sofort rausgeschrien wurde. Die Szene hatte Achtung, ja fast Angst von X-Beliebig und ihrer musikalisch so gelungenen Annäherung an die englischen Vorbilder.
82 griff sich einer der zentralen Vorantreiber von allem, der Musiker, Falter&Wiener-Schreiber und Produzent Eberhard Forcher (Herr von Tom Petting & Hertzattacken) die Buben, schleppte sie ins damals beste Studio für neue Musik zu Ernie Seuberth und nahm ihr Album auf, für das von ihm und Rudi Nemeczek von Minisex einem der damaligen Majors (der späteren BMG) aus dem Leib gerissenen Sub-Labels, auf dem man experimentieren konnte, dass die Schwarte krachte: Schallter. Auf Schallter veröffentlichten der damalige Superstar Hansi Lang, der irre Peter Weibel, die Kunstfuzzis von Molto Brutto, Wolfgang Kos' Leider keine Millionäre, Roedelius, die Hallucination Company und die verdrehten Rosachrom. Und eben X-Beliebig, ein gleichnamiges Album, mit dem wunderbar knappen Soldaten-Piktogramm, Katalog-Nummer 204 915.

Die guten Kräfte aus Wiener Neustadt

Ein großes Album, acht wuchtige Stücke, sieben Endzeit-Dirges von Rene Adametz, ein Liebeslied vom Bassisten, wahrscheinlich schon vom nachnamenlosen Zoltan, und nicht mehr von Vorgänger Franz Heuschneider. Im Buchprojekt, das diese Zeit auf den Punkt bringt, im von Günther Brödl herausgegebene Die guten Kräfte gab es eine eigene Neustadt-Section, die gleich nach Wien und Linz und deutlich vor Graz den Ton angab.
Kurz danach erschien noch ein weiteres Stück, "Warum" auf dem Sampler "Heimat bist du großer Söhne" auf Panzaplatte.
Und danach: nichts mehr. Die "Dämmerattacke", der Neustädter Kern, spielte noch hin und wieder in Wien, blieb aber unnahbar und bröselte weg, löste sich langsam auf.

Die "was macht eigentlich der Adametz-Rene?"-Frage war eine beliebte innerhalb der Wiener Szene. Antworten gab es nie - wie auch, ohne Google und GPS?

Seitdem lebt die Band bei mir im Hinterkopf. Ich summe ihre Basslines und hole Textfetzen hervor, wenn es passt. Bei nicht zu stellenden Fragen, Mädchen mit graugrünen Augen oder sich öffnenden und zufallenden Türen.

Dem Rest der Welt bleibt nicht so viel. Ein paar Songs, deren Strahlkraft erstaunlich wenig eingebüßt hat - ganz im Gegensatz zu 90% ihrer Zeitgenossen. Wunderbare Endzeit-Teenager-Lyrik, die die Entstehungs-Phase, die Anfang-80er einfasst wie ein leuchtendes Stück Bernstein die Insekten und Gräser seiner Ära. Ein paar Liner Notes, die die Ernsthaftigkeit und Traurigkeit von X-Beliebig betonen - Liner Notes, sowas hat es ja danach über Jahrzehnte nicht mehr gegeben, ehe sich Ja, Panik wieder besonnen haben.

Das ist Morgen, der düstere Starter des Albums.
Danach komplettieren Stell die Frage nicht,
Antlitz und Unheimliche Begegnung die erste Seite des Albums.

Die zweite Seite beginnt mit Verlogen einer resignativen Anklage, dann folgt ein Titel mit einer der feinen kleinen Sprachschöpfungen der X-Beliebig, Silberneue Träume.

Das ist der erwähnte Lovesong-Ausreißer - Ah! Und am Schluß heißt es noch Fort.

Und das sind die erwähnten Liner-Notes:
Das Leben wird nicht gelebt, es wird aufgelöst wie ein Rätsel. Es ist wie ein Schauspiel, in dem Menschen Rollen vorspielen, die nicht ihr eigenes Ich zum Vorschein bringen. Pflichten erfüllen, Aufgaben erledigen – Begriffe, die auf Normen und Gesetze gestützt sind und nicht erklärt werden können. Hinter den sogenannten eigenen Meinungen steht Zwang, der von außen in sie eindringt und sie wie Marionetten, von falschen Autoritäten geleitet, herumirren lässt. Das Bewusstsein liegt im hintersten Winkel der vergänglichen Hülle begraben.

Gewissen war und ist zweitrangig, denn die Angst vor dem eigenen Ich, die Angst, ehrlich zu sich selbst zu sein, die Angst, dem Wahren ins Gesicht zu blicken, ist zu groß. Man geht Umwege, um Schwierigkeiten zu vermeiden. Der kurze und wahre Weg ist unbekannt. In einer Gesellschaft, die sie sich im Überfluss geschaffen haben, gehen sie zugrunde.

Probleme zu schaffen, um sie danach meistern zu können, zeigt, wie sinnlos Menschen handeln, zeigt auch, dass sie zum Untergang verdammt sind. Nach Katastrophen blicken sie auf, schauen sich an und suchen wieder am falschen Ort nach Ursachen. Es hat sich im Grunde nie etwas geändert. Die große Reformation ist immer ausgeblieben. Dinge, die gestern passiert sind, passieren heute mit anderen Vorzeichen. Viele möchten etwas ändern, doch keiner beginnt bei sich selbst.

Außerdem gibts noch zwei Proberaumaufnahmen - eine zu Morgen, und:

Und Fort ist der logische Rausschmeißer aus der kurzen Lebenszeit von X-Beliebig, der allerbesten österreichische Band von "früher", die keiner kennt.