Erstellt am: 12. 2. 2011 - 14:53 Uhr
Der alte König in seinem Exil
Rund 100.000 Menschen leiden in Österreich unter Demenz - bei den über 80-Jährigen sogar jeder Vierte - und glaubt man den Statistiken, dann soll sich die Zahl in den nächsten 40 Jahren verdoppeln.
"Die Krankheit schlägt ein wie eine Bombe. Am Anfang hat das so viel Macht, da geht mehr oder weniger jeder in die Knie." erzählt Arno Geiger im Interview. Mitte der 90er erkrankt sein Vater, August Geiger, an Demenz. Die Diagnose Demenz oder Alzheimer sei "Horror! Also Beine unter den Arm nehmen und davon laufen."
Aber Arno Geiger ist nicht davon gelaufen sondern schaut der Krankheit in die Augen und entdeckt dort im Laufe der Jahre zum großen Erstaunen ein anderes Leben, Zufriedenheit und Freundlichkeit. Und er lernt seinen Vater von einer neuen Seite kennen und wird zu seinem besten Freund. Kennenlernen im wahrsten Sinne des Wortes. Denn schon bald weiß der Vater nicht mehr, wie sein Sohn heißt, und meint darauf nur lächelnd "als ob das so wichtig wäre."
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August Geiger lebt in seiner eigenen Welt, unsere leistungsorientierte Wirklichkeit ist für ihn durcheinander geraten. "Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm. Dort drüben, innerhalb der Grenzen seiner geistigen Verfassung, jenseits unserer auf Sachlichkeit und Zielstrebigkeit ausgelegeten Gesellschaft, ist er noch immer ein beachtlicher Mensch, und wenn auch nach allgemeinen Maßstäben nicht immer ganz vernünftig, so doch irgendwie brillant."
"Man neigt ein bisschen dazu, Demenzkranke zu unterschätzen." meint Arno Geiger. "Man denkt am Anfang, alles ist vorbei. Und man sieht dann eben nicht, was noch da ist. Man sieht nur, was ist weg."
Er jammert nicht über die Fähigkeiten, die seinem Vater abhanden gekommen sind, sondern freut sich an den Dingen, die noch da sind bzw. entdeckt Dinge, die ihm vorher kaum aufgefallen sind. Etwa die einfallsreiche Sprache seines Vaters: "Früher hatte ich auch Katzen, nicht gerade für mich allein, aber als Teilhaber."

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August Geiger reflektiert sehr wohl auch über sein Leben: "Meine Anfänge, die sind kraftvoll gewesen. Aber jetzt bin ich alt - und mit dem Alter ist eine gewissen Unbedenklichkeit eingetreten - nein, nicht Unbedenklichkeit - nicht Unbedenklichkeit, das Wort ist schlecht - es hat Probleme gegeben."

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Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. Hanser Verlag 2011
Einfache, aber berührende Dialoge zwischen Vater und Sohn verbinden die einzelnen Teile des Buches. Während der Dauer von sechs Jahren hat Arno Geiger immer wieder das Zusammentreffen mit seinem in Wolfurt in Vorarlberg lebenden Vater beschrieben.
"Es ist, als würde ich dem Vater in Zeitlupe beim Verbluten zusehen. Das Leben sickert Tropfen für Tropfen aus ihm heraus. Die Persönlichkeit sickert Tropfen für Tropfen aus der Person heraus. Noch ist das Gefühl, dass dies mein Vater ist, der Mann, der mitgeholfen hat, mich großzuziehen, intakt. Aber die Momente, in denen ich den Vater aus früheren Tagen nicht wieder erkenne, werden häufiger."
Dem häufigen Vergleich von Demenzkranken mit Kindern kann Arno Geiger nichts abgewinnen - Kinder würden schließlich ständig dazu lernen.
Beim Vergessen an sich sieht er durchaus auch Positives: "Es geht ja zum Glück nicht nur Schönes verloren durch das Vergessen, sondern auch die Konflikte, die wir hatten. Ich hatte eine schwierige Pubertät, ich war ein unangenehmer Jugendlicher für Eltern, habe ihnen sicher viel Sorgen gemacht und das war weg. Und ich hab wirklich die Gelegenheit beim Schopf gepackt und hab mir gedacht, ich schließ mich an und das lassen wir hinter uns. Und konnte zurückgreifen auf die sehr sehr gute Beziehung zu meinem Vater in der Kindheit."
Arno Geiger ist mit seinem Buch "Der alte König in seinem Exil" nicht nur ein großartiges Porträt seines Vaters August Geiger gelungen, sondern auch ein intimer Bericht, der aufzeigt, warum erst der Tod das Leben so anziehend erscheinen lässt: "Wenn die Menschen unsterblich wären, würden sie weniger nachdenken. Und wenn die Menschen weniger nachdenken würden, wäre das Leben weniger schön."