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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

15. 2. 2011 - 08:33

Schachmatt

In Camille de Perettis episodischem Roman "Wir werden zusammen alt" hüpft der Leser im Rösselsprung durch ein Altersheim.

"Help the aged, don't just put them in a home."
(Pulp - "Help the aged")

Innenhof, 9:30. Die Besuche in der Seniorenresidenz Les Bégonias sind eine Kraftprobe für die 25-jährige Camille. Seit zehn Jahren lebt ihre alte Tante Nini im Altersheim und Camille versucht Besuchen, so gut es geht, aus dem Weg zu gehen. Sie erfindet Ausreden: Sie hat zu tun, sie muss arbeiten, es ist zu weit, es herrscht Stau, ihr Auto ist in der Werkstatt, egal was. In Wahrheit erstickt sie an ihrem eigenen Egoismus.

Mittlerweile ekelt sich Camille vor Nini. Vor den Borsten am Kinn, den langen, vergilbten Fingernägeln, den benutzten Taschentüchern, die sie in ihrem Schoß sammelt und in die sie abwechselnd rotzt und spuckt. In jedem freien Moment blickt Camille auf die Uhr und fragt sich, ob sie endlich vor diesem Meeresungeheuer, das früher einmal ihre Tante war, flüchten kann. Nini macht ihr Angst, Alter und Krankheit machen ihr Angst. So behutsam wie möglich ergreift Camille die Flucht.

Alter Mann blickt aus Fenster im Altersheim

www.flickr.com/ulrichkarljoho

Endstation: Altersheim

Zimmer der Baronin, 13:15. Alphonse Destroismaisons zieht seine Frau an und schminkt sie. Seit Jahren ist sie dazu nicht mehr selbst in der Lage. Im Altersheim Les Bégonias werden normalerweise keine Alzheimer-Patienten aufgenommen, aber bei der "Baronin" wurde eine Ausnahme gemacht. Alphonse liebt, ja vergöttert seine Frau. Was würde er darum geben, wenn sie nicht immer diesen leeren Blick hätte, der ihm verrät, dass sie eigentlich keine Ahnung hat, wer er ist. Einmal möchte er noch das kurze Funkeln sehen, dass sie ihn als ihren Ehemann erkennt. "Mein Mann, wo ist mein Mann?" fragt sie oft. "Mein Mann kommt? Er darf uns beide hier nicht erwischen!" Er will es nicht hören. Dieses Mal nicht. Er will nicht mit ansehen, wie sie Angst davor hat, der betrogene Ehemann könnte kommen. Sie stößt einen Schrei aus. Alphonse hat sie geohrfeigt.

Die, die alt sind...

Camille de Peretti: Wir werden zusammen alt

Rowohlt

Camille de Peretti: "Wir werden zusammen alt" ist 2011 in deutscher Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel im Verlag Rowohlt erschienen.

Das sind nur zwei der 64 Schicksale, die im 15-Minuten-Takt im Altersheim Les Bégonias erzählt werden. Bevor einem diese formale Besonderheit auffällt, steht der Inhalt im Vordergrund. Denn jeder, der die Seniorenresidenz betritt, kann sich ihr kaum entziehen. Seien es Pensionisten, Pfleger, Besucher oder sogar der Direktor. Es sind teils skurrile, aber auch berührende Episoden, die miteinander verknüpft sind.

Gleich zu Beginn wird eine alte Frau von einem Ehepaar "eingeliefert". Sie ist die Mutter des Mannes, dem das Herz verständlicherweise blutet. Sie ist aber auch die Schwiegermutter seiner Gattin, die es weitaus leichter nimmt, die alte Frau "abzuschieben", anstatt sich selbst um sie zu kümmern. Der Direktor nimmt die alte Frau in Empfang. Dieser Direktor beginnt wiederum eine Affäre mit einer Pflegerin, nur um sich später mit der Leiche einer alten Dame abzumühen, weil diese aufgrund eines fehlenden Kühlaggregats von Ameisen angeknabbert wird. Die Familie der Verstorbenen, die sich zu deren Lebzeiten nie blicken ließ, ärgert sich inzwischen grün und blau, da die alte Dame ihnen kein Erbe hinterlassen hat. Ganz anders die drei reichen Witwen, die ihren Tag damit verbringen, über andere zu lästern, weil ja doch nichts im Fernsehen läuft.

Ob jung oder alt, all diese Leben sind im Altersheim miteinander verwoben und eröffnen ein tiefgründiges Panoptikum über das Leben, Zuneigung, Hoffnungen und das Älterwerden. Aber der Roman kann noch viel mehr.

Die französische Autorin Camille de Peretti

Francesca Mantovani

Camille de Peretti

...und jene, die es noch werden

Der Roman "Wir werden zusammen alt" der französischen Jungautorin Camille de Peretti (30) unterliegt einem formalen Zwang. Das Altersheim besteht aus exakt 64 Räumen, und das mit Absicht. Denn Camille de Peretti organisiert ihren Text wie ein Schachbrett. Der Leser übernimmt dabei die Rolle des Springers und hüpft im Rösselsprung von einem Raum zum nächsten. Die Sprünge geschehen im 15-Minuten-Takt, wodurch der ganze Roman im Endeffekt eine Zeitachse von 9:00 früh bis 0:45 nachts abdeckt. Alle fünfzehn Minuten ein neuer Raum, die Räume ausgewählt nach den Zugmöglichkeiten des Springers. Got it?

Dieses Organisationsprinzip geht auf die französische Oulipo-Gruppe zurück, eine literarische Tradition der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Autoren wie Georges Perec, Jacques Roubaud oder Marcel Benabou ermöglichen ihren Werken auf diese Weise strukturelle Experimente, die sich natürlich auch auf den Inhalt auswirken. Georges Perec ist ein Vorreiter der oulipotischen Beschränkungen. So verzichtet er in seinem Werk "La disparition" zur Gänze auf den Buchstaben E. Dieses Lipogramm wird bemerkenswerterweise auch in der deutschen Übersetzung übernommen. In einem anderen Text von Perec ist das E wiederum der einzige Vokal, den er verwendet, und auch die Schachbrett-Idee geht auf George Perec zurück ("Das Leben Gebrauchsanweisung"). Camille de Peretti gehört zwar nicht zur Oulipo-Gruppe, bedient sich in "Wir werden zusammen alt" aber ihrer Regeln und übernimmt Perecs Bauprinzip des Schachbrettes. Dadurch gelingt ihr episodisches Erzählen in Perfektion: Der Roman eröffnet x- und y-Achsen, die Raum und Zeit abdecken und durch eine dritte Inhaltsachse ergänzt werden. Das ist ein äußerst geschicktes erzählerisches Prinzip, das beim Lesen keineswegs stört und zumeist erst beim Studieren des angefügten Regelwerks auffällt.

Schachbrett von oben

www.flickr.com/eivindw

Die 64 Räume im Altersheim Les Bégonias

Weitere Leseempfehlungen:

"Wir werden zusammen alt" ist bereits der dritte Roman von Camille de Peretti, jedoch der erste, der auf Deutsch erscheint. Die Idee für diesen Text kam Peretti beim Besuch im Altersheim, ihre Erfahrung dort ähnelt jener von "Camille", die nur widerwillig ihre alte Tante besucht. Mit viel Feingefühl beschreibt Peretti ein gesellschaftliches Tabu-Thema: das Älterwerden. Von dem Wunsch eines ewigen Jungbrunnens angestachelt, werden alte Menschen in Medien zumeist als verwirrt, kraftlos und inkompetent dargestellt. Selbst alt, einsam und pflegebedürftig zu sein, das wird von vielen in weite Ferne verdrängt. Eine umso größere Leistung vollbringt Peretti daher durch ihre virtuose Zusammenführung der Generationen, die Ängste, die sie teilen und den häufig stummen Schrei nach Zuneigung, Hilfe und Liebe, der sie verbindet.

"Wir werden zusammen alt" ist nicht nur etwas für Formalisten. Es ist ein kitschfreier Roman über zwei Sorten von Menschen: Die, die alt sind und jene, die es noch werden. Aber für beide gilt am Ende: Schachmatt.