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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

9. 2. 2011 - 18:54

Bigsoc Britain

Was Briten meinen, wenn sie ironisch mit den Augen rollen und „Big Society“ sagen.

Heute hab ich in den Morgennachrichten von einem neuen britischen Printmagazin gehört, das sich auf „slow news“ spezialisieren will. Die Nachrichten nämlich, die in den rollenden News-Medien auf- und wieder abgetaucht sind, und die wir dann nicht weiter verfolgt haben, weil schon wieder ein anderes Erdbeben oder eine andere Revolution oder eine Promi-Schmutzgeschichte von legitimem öffentlichem Interesse dazwischen gekommen ist.

Der interviewte Redakteur und Magazin-Gründer fing dann drüber zu schwärmen an, wie gut das hochwertige Papier seiner hochwertigen Zeitung riecht. "Ha!", wollte uns das sagen, "Wieder was, was ein iPad nicht kann." Aber in diesem Moment weiß man ja schon wieder längst, dass sie als nächstes iPads optional mit hochwertigem Papierduft ausstatten werden, so wie sie zur Ausschaltung des In-die-Badewanne-mitnehm-Arguments kleine Luftmatratzen für iPads auf den Markt geworfen haben.

Große Worte, tiefe Schnitte

Nein, wie wir alle wissen, ist das Internet das ideale Medium für Slow News. Wer will, kann da endlos weit zurückgehen und nachschürfen. Bis einmal sämtliche Harddrives versagt haben, ist nichts geeigneter zur Präservierung des Ephemeren als das Internet, an deren endlosem Sezieren einen dann kein Blattspiegel (Journaillenslang) hindern kann.

Frau mit Save The NHS und Boots Pay Your Tax auf ihrem Overall

Robert Rotifer

"Save the NHS", die obere der beiden Parolen, bezieht sich auf das britische Gesundheitssystem, das zunehmend privatisiert wird

Dieser Einsicht entsprechend will ich hier ein paar Fotos veröffentlichen, die ich vor anderthalb Wochen an der Oxford Street geschossen hab, wo wir irrtümlich in einen Flashmob gegen Steuervermeidung hineingeraten sind. Die Sache war eine Aktion von UK Uncut, einer jener unorthodoxen politischen Initiativen, die sich auf spontane Protestkundgebungen unter Zuhilfenahme neuartiger Technologien wie etwa des Anti-Einkesselungs-Werkzeugs Sukey verstehen.

Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte, war, dass die gutgelaunten ProtestiererInnen, die da in weißen Drogistenmänteln ihre Stimme gegen die Steuervermeidungstaktik der Pharmazie- und Drogerie-Kette Boots erhoben, wenig später von der Polizei mit CS-Gas besprüht werden sollten, weil eine von ihnen versuchte, Flugblätter durch den Schlitz einer verschlossenen Geschäftstür zu schieben, was laut Exekutive offenbar als Versuch der Beschädigung von Eigentum auslegbar ist.

Ganz im Sinne der Big Society besteht unser visionäres ORF-Gesetz darauf, dass Stories wie diese unsere Sendungen begleiten, so als wären sie Senioren, denen man aus sozialem Gewissen über die Straße hilft.

Das ist jetzt aber keine Allegorie auf alte oder neue Medien, sondern nur ein der Einhaltung des visionären Gesetzes zuliebe ganz weit hergeholter Vergleich und soll bedeuten, dass man hier legal seinen Senf dazugeben darf, denn zwischen Radio und Internet gilt, wie der große Philosoph der Big Society David Cameron immer betont: "We're all in this together."

Mann verteilt I Love NHS Kleber

Robert Rotifer

Als später im Fernsehen das daraus resultierende Handgemenge gezeigt wurde, war die laut skandierte Parole der DemonstrantInnen zu hören:

"Mr Cameron, can't you see, we're the Big Society."

Das sollte man einmal auf der FM4-Seite erklären, was die damit meinen, bevor's eh schon alle wissen, hab ich mir gedacht - vor anderthalb Wochen, bevor dann wieder einmal einiges anderes dazwischen gekommen ist.

Demonstranten halten Transparent "Cuts Don't Cure"

Robert Rotifer

Das Schwierige an der Erklärung des Begriffs „Big Society“ ist ja aber, dass sich sogar seine eifrigsten Claqueure regelmäßig daran die Zähne ausbeißen. Sie kommen immer ins Schleudern, beginnen irgendwas von der Ermächtigung der Communities zu faseln, von der Verlagerung der Macht vom Staat in Richtung Kleininitiative, freiwilliges Gutestun und sonstige Wohltätigkeit unter Nachbarn, wie zum Beispiel "Free Schools", die betriebsame Eltern für ihre vom staatlichen Schulsystem unterforderten Wunderkinder gründen sollen.

In Wahrheit, das wissen sie natürlich, war das Gerede von der „Big Society“ ursprünglich nur so eine schlaue Idee gewesen, die die Tories menschlicher aussehen lassen sollte, so wie der hingekritzelte, grüne Baum als Parteilogo statt der alten rot-weiß-blauen Fackel, die aussah wie das Markenzeichen einer besonders fiesen Telefongesellschaft.
Ein Re-Branding einer Partei also, die immer noch darunter litt, dass Maggie Thatcher einmal schlaugemeiert hatte: "there is no such thing as society.“

Kamerateams vor dem UK Uncut-Protest in der Oxford Street

Robert Rotifer

Das Spiel mit dem Medieninteresse ist eine der Stärken von UK Uncut

Nach der Regierungsübernahme, als die Partei der Bevölkerung ihr Sparprogramm verkaufen musste, fiel Cameron, Osborne und Konsorten nichts Besseres ein, als auch diese Kürzungen irgendwie in den Erzählstrang der Big Society mit rein zu nehmen und Aufgaben des angeblich so aufgeblähten Sozialstaats kostensparend der nachbarlichen Fürsorge zu überlassen.

Natürlich konnte sich das gar nicht ausgehen.

Weil die Gemeinden, deren Budgets um ein Viertel gekürzt worden sind, jetzt - statt ihre eigenen Angestellten zu kündigen und einen internen Aufstand zu riskieren - klarerweise als erstes die Förderungen für just jene freiwilligen Hilfsorganisationen streichen, die der Theorie nach genau ins Ideal der Big Society passen sollten.

Und weil die Free Schools, die im Sinne des Konzepts von betriebsamen Eltern gegründet werden, den Schulen für Kinder regulär berufstätiger Eltern, die keine Zeit für solchen Firlefanz haben, das ganze Geld wegnehmen.

Heute hat Cameron nun angekündigt, dass es tatsächlich eine sogenannte Big Society Bank geben wird, die 200 Millionen Pfund an den freiwilligen Sektor verteilen soll. Das heißt, im Sinne der vorgeblichen Dezentralisierung, werden Mittel von den Gemeinden weggenommen und dafür wesentlich geringere Mittel einer zentralen Stelle zur Weitergabe an lokale Initiativen zugeschrieben. Soll einer verstehen.

Die Big Society wird, so wie es aussieht, nicht mehr als ein großer Bauchfleck. Der Begriff klingt zwar nach Orwellscher Newspeak, so als Mittelding aus Big Brother und Ingsoc (Abkürzung für "English Socialism" in "1984"), das ganze Konzept ist aber zu blöd und zu simpel, um diese literarische Referenz zu rechtfertigen.

Ich wollte es hier trotzdem einmal beschrieben haben, weil diese Tiefflieger-Ideen ja die Angewohnheit haben, irgendwann dürftig übersetzt auf dem europäischen Kontinent anzukommen. Wenn also irgendjemand in eurer Umgebung plötzlich wirres Zeug von der "Großen Gesellschaft" zu stottern beginnt, lacht ihn oder sie bitte ganz schnell aus, bevor es zu spät ist.

Allerdings Orwellsches Plakat in einer Bahnstation der South West Trains

Robert Rotifer

Allerdings Orwellsches Plakat der South West Trains-Bahngesellschaft