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Natalie Brunner

Appetite for distraction. Moderiert La Boum de Luxe und mehr.

11. 2. 2011 - 14:28

Dreißig mal mehr

Vom Moro da Providencia nach Vigaro Geral, eine Zeitreise der Favelas von Rio

"Faces of Rio" - Feature über die Favelas in Rio. Am 3. März 2011 ab 20.30 Uhr in der FM4 Homebase

Es ist staubig, stickig und heiß im Centro von Rio. Menschen mit Plastiksackerl wuseln herum. Pendler eilen zu Autobussen, dazwischen unzählige Straßenhändler, die alles, von Telefonwertkarten bis hin zu Regenschirmen verkaufen. Es riecht nach einer Mischung aus Kanalisation und verfaultem Müll. Auf dem Markt werden Plastikprodukte verkauft, die am unteren Ende der Nachhaltigkeitsskala anzusiedeln sind und relativ schnell zu einem Teil des Mülls werden, der hier herumliegt. Es gibt offene Stehbars und Stundenhotels, deren Eingänge schmale dunkle Stufen sind, die in die oberen Etagen führen. Die Zimmer kann man sowohl stunden- als auch tageweise mieten.

Hier, an einem neuralgischen Punkt zwischen dem Hauptbahnhof Central do Brasil und dem Hafen, erhebt sich der Morro da Providencia. Müll säumt die unasphaltierten Wege. Die Abgase und der Stress des Zentrums und des Bahnhofs, auf den die meisten Pendler aus dem Norden der Stadt ankommen, ziehen den Hügel hinauf. Bis vor ein paar Jahren war Providencia nicht nur ein armer, sondern auch ein gefürchteter Ort, ein Platz. dessen Name mit Bedrohung verbunden war. Viele Baile Funk-Nummern erzählen davon. Eine traurige Tradition des Elends, die über hundert Jahre zurückgeht. Es gibt Dokumente aus dem Jahr 1910, die Providencia als den gefährlichsten Ort von Rio beschreiben.

arquivo central da cidade do rio de janeiro

Mehr Reportagen aus Favelas:

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1897 gründeten Soldaten, die aus dem Bürgerkrieg von Canudos heimgekehrt waren, eine provisorische Siedlung, während sie auf ihren Sold, der aus Landzuweisungen bestand, warteten. Die Regierung zahlte sie nie aus, und der Hügel wurde zur ersten Favela. Auch der Name Favela stammt von hier, dem Moro da Providencia. Favela ist eigentlich eine Pflanze, ein stacheliges Kraut, das den ganzen Hügel überzog. Die Gemeinde hieß in ihren Anfangstagen Moro do Favela, Hügel der Favela. Beide Worte, Moro und Favela, wurden in ganz Brasilien zu Synonymen für wild errichtete Armutssiedlungen. Die Bevölkerung auf dem Hügel wuchs rasch, weil im Hafen am Fuß des Hügels billige Arbeitskräfte gebraucht wurden.

JR, Marcello und die olympischen Spiele

2008 wählte der im Moment zurecht schwer gehypte französische Fotograph JR Providencia als Standort seiner urbanen Intervention. JR geht es neben ästhetischen und anderen Fragen in seiner Arbeit um die Sichtbarmachung von an den Rand gedrängten Menschen. Er fotografiert Porträts und im Fall von Providencia plakatierte er deren Gesichter riesig über mehrere Häuser. Wenn man auf der Stadtautobahn unterwegs war, sah man die Gesichter der Menschen aus dem Stadtteil, den viele am liebsten vergessen würden.

v. almeida

Eines der Gesichter, die JR damals fotografiert hat, gehört Marcello. Es ist auch am Cover seiner CD Dughettu. Er fährt mit uns auf der eben erwähnten Autobahn und hat uns gerade die obige Geschichte des Moro da Providencia erzählt. "In ein paar Jahren wird hier alles anders aussehen", meint er. "Die ganze Hafengegend wird im Rahmen der Stadterneuerung anlässlich der Olympiade 2016 umgestaltet werden."

Marcello glaubt, wie viele BewohnerInnen der Stadt, dass Rio an einem historischen Wendepunkt steht. Viel Geld fließt momentan in die Stadt wegen der WM 2014 und den olympischen Spielen 2016. Zu seiner Freude mischen sich auch Bedenken darüber, wer von den Großevents profitieren wird. Er befürchtet, dass Teile der Bevölkerung nicht das Bildungsniveau haben, kleine lokale Firmen nicht die Struktur, um die Chancen, die WM und Olympiade bringen, nützen zu können. "Die Regierung hätte schon vor Jahren in Bildung und das Schulsystem investieren müssen, viele Leute sprechen schlecht oder kein englisch, sie werden kaum vom Boom der Stadt profitieren."

jr.net

Marcello ist neben vielen anderen Dingen MC. Wenn man ihm zuhört, beginnt man sich zu wünschen, dass Menschen wie er die Nerven aufbringen würden in die Politik zu gehen. Der Mann schafft es, komplizierte Dinge auf ihre Essenz herunter zu brechen ohne zu generalisieren. Es ist richtig und wichtig, dass solche Menschen mit Mikros auf der Bühne stehen, MC sind. Jedes alltägliche Gespräch ist von einem Denken durchzogen, das meinen Glauben bestärkt, dass Hip Hop eine musikalische, politische und soziale Kraft ist.

natalie brunner

Wenn du Marcello hörst, spürst du, dass dieses Ding am Leben ist. Es ist nicht gänzlich von kapitalistischen Interessen vereinnahmt. Egal wie viele Reime über die Freuden des Kapitalismus gemacht werden, es macht Sinn von Hip Hop als sozialrevolutionäre Kraft zu sprechen, solange Menschen wie Marcello sich den Arsch aufreissen, damit Kids, die in Favelas zwischen Eisenbahngleisen und vergifteten Abwasserkloaken aufwachsen, daran glauben können, dass es in all dem Elend, in das sie hinein geboren wurden, andere Wege zum Selbstrespekt gibt als mit neuen Nike an den Füßen und Uzi in der Hand.

natalie brunner

"Es ist nicht schwer Menschen zu zeigen, dass sie etwas können und etwas wert sind, obwohl sie nicht konsumieren können. Das funktioniert über Kunst, Kultur und Bildung", meint unser Mann.

Für ihn hat Rio eine ganz spezifische Art von revolutionärer Jugend und Popkultur, die aus den Favelas kommt und einerseits an der Neudefinition des Bilds nach außen und der positiven Identitätskonstruktion und Selbstwahrnehmung arbeitet. "Man darf die Definitionsmacht darüber was man ist und wofür man steht nicht länger den Medien überlassen. Aus diesem Grund kommt in Rio politische Jugendkultur zu einem großen Teil aus den Favelas."

natalie brunner

Er versucht das komplexe Problem zu erklären:
"Wenn du arm bist, musst du in Brasilien 10 mal mehr kämpfen, um etwas zu erreichen, wenn du aus einer Favela kommst 20 mal mehr, und wenn du zudem noch schwarz bist 30 mal mehr. Große Medien gehen nur in die Favelas um über Verbrechen zu berichten. Wenn über die Gemeinden berichtet wird, dann nur über diesen Aspekt. In ihrem Verständnis ist Popkultur Telenovelas, Fußball und die Geschehnisse im Big Brother Haus. Dem wird soviel Platz eingeräumt, dass es keine Aufmerksamkeit für politische Jugend und Popkultur gibt."

natalie brunner

Als Beispiel erwähnt er Projekte wie das Schauspielerkollektiv Nós do Morro aus der Favela Vidigal. Nós do Morro bilden aus der Community kommende Menschen zu Theater- und Filmschauspielern aus und konzipieren auch selbst Produktionen.

Afro Reggae

Afro Reggae ist wohl die bekannteste NGO die versucht mit Musik, Tanz, Theater und Performance das Leben der Menschen und die Infrastruktur der Gemeinden zu ändern. Sie bilden Jugendliche in verschiedenen Kunst- und Performance-Disziplinen aus, haben Community Center, die mit Ton und Videostudios ausgestattet sind, organisieren nationale und internationale Touren, Filmscreenings, Diskussionen Workshops, produzieren Fernsehdokus, geben Magazine heraus, machen Radiosendungen auf den großen Kanälen und treten in der Öffentlichkeit als Mediatoren zwischen Polizei und kriminellen Organisationen auf, deren Hauptinteresse immer das Wohl der Zivilbevölkerung ist.

natalie brunner

Marcello arbeitet seit Jahren mit Afro Reggae zusammen. Er nimmt uns mit in das im Mai 2010 eröffnete Zentrum in der Favela Vigaro Geral. "Die Fertigstellung hat sich gewaltig verzögert, da viele Handwerker sich weigerten, Aufträge in Vigaro Geral zu übernehmen", erzählt er. Vigaro Geral wird in Rio manchmal Gazastreifen genannt, da in der Favela unmittelbar gegenüber ein anderes Drogenkartell regiert und es in der Vergangenheit oft zu Schießereien kam.

natalie brunner

Afro Reggae hat sich allerdings als Reaktion auf ein Massaker der Polizei an der Zivilbevölkerung von Vigaro Geral gegründet. Die Beziehung zwischen Polizei und Drogenhandel ist in Rio leider oft nicht die, die man in einem Rechtsstaat erwarten würde. Es gibt Abmachungen und Zugeständnisse, Geld fließt vom Trafico in die Taschen einzelner Polizisten. Am 28. August 1993 haben Drogenhändler gegen eine der Abmachungen verstoßen und vier Polizisten wurden erschossen. Am nächsten Tag kam eine Gruppe von Polizisten, um sich zu rächen. Sie ermordeten 21 Zivilisten und stellten die Körper auf der Hauptstraße von Vigaro Geral zur Schau. Marcello zeigt mir die Stelle ein paar Meter vom neuen Community Center entfernt.

globopress

Damit so etwas niemals mehr passieren wird, hat sich Afro Reggae formiert. Sie arbeiten zum Schutz der Bevölkerung und vermitteln zwischen Trafico und Polizei, beide Fraktionen beziehen sie in ihre Arbeit ein. Heute unterhält Afro Reggae 64 Projekte und Gruppen, die alle in irgendeiner Form Kunst und Kultur als Mittel zur intellektuellen, politischen und sozialen Selbstermächtigung nützen und in weiter Folge auch Jobs in der Gemeinde schaffen.

natalie brunner

Vigaro Geral

Ich war 2007 schon einmal in Vigaro Geral um die Afro Reggae Einrichtungen zu sehen. Es war ein deprimierender Ausflug. Bewölkter Himmel, alles grau in grau, die Favela erschien trist und hoffnungslos. Die Afro Reggae Einrichtungen waren simpel und zum Teil open air. Was heute dort steht ist umwerfend: Ein riesiges vierstöckiges Gebäude, in den Farben von Afro Reggae und auf dem Dach ragt die Black Power Faust weithin sichtbar in den Himmel.

natalie brunner

Im Umfeld dieser Organisation hat Marcello sein Projekt aufgezogen. Er hat zwei Häuser in Vigaro Geral gemietet, in denen er mit Freunden gemeinsam Hip Hop Workshops veranstaltet hat. Heute ist das Projekt ins Afro Reggae Center gezogen. Das Ganze ist nicht als Zeitvertreib konzipiert gewesen, auch nicht um den SchülerInnen nur intellektuelle und kulturelle Rückenstärkung zu geben. Das Ziel ist, die TeilnehmerInnen in den Workshops so auszubilden, dass sie in der Lage sind, professionell im Musikgeschäft zu operieren. Sie lernen nicht nur das Handwerkszeug von DJs, MCs und Producern, sondern auch wie man Social Networks nutzt, Imagearbeit betreibt, Gagen aushandelt, mit Labels umgeht, Gigs organisiert was Urheberrechte bedeuten und vieles mehr. Der erste Absolvent wohnt zwei Strassen weiter. Als Hip Hop DJ legt er nur manchmal auf. Die Ausbildung hat ihm aber dennoch einen Job verschafft: er ist Tontechniker geworden. Er zeigt uns sein Haus und ein paar Gassen von Vigaro Geral.

natalie brunner

Vigaro Geral ist eine flache Favela, vom umliegenden Bezirk getrennt durch Bahngleise, die von Mauern umgeben sind. Am Eingang direkt hinter der Mauer ist ein Sportplatz, auf dem untertags die Sonne brennt und der erst in der Nacht zum Leben erwacht.

natalie brunner

Um die Mitgaszeit werden die Gassen geflutet damit Kinder auf der Straße planschen können.

natalie brunner

Auf einer Matratze am Boden liegen zwei Babys. Der Typ, der auf sie aufpasst, ist meiner Meinung nach nicht älter als zwölf und will mir einreden, dass er der Vater ist.

natalie brunner

Den Teenager mit der Uzi gibt es auch hier. Er steht an der Brücke, die über die Bahngleise die in die Favela führt. Er ist ein Wachposten und kontrolliert, wer rein und rausgeht. Er ist darauf vorbereitet, dass wir hier herum gehen und weiß, warum wir hier sind und was wir machen. Als ich bei ihm vorbeigehe und Vigaro Geral verlasse, verabschiedet er sich und sagt auch Danke.
Danke wofür? Dass ich hierherkomme, um Geschichten zu schreiben, dass es nicht nur Jungs wie ihn gibt?