Erstellt am: 7. 2. 2011 - 18:50 Uhr
Journal 2011. Eintrag 30.
2011 ist, wie zu erwarten war, wieder ein Journal-Jahr wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009.
Das bedeutet, wenn man das Fußball-Journal '11 dazurechnet: es gibt wieder einen täglichen Eintrag, Anregungs- und Denkfutter inclusive.
Zumeist werden sich hier Geschichten/Analysen finden, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit dem Versuch mir zu erklären, wie es passieren kann, dass eine derart unamerikanische Genossenschaft wie die Green Bay Packers wieder einmal den größten Sport-Preis, den der Welt-Kapitalismus vergibt, die Superbowl nämlich, erringen konnte.
Keine Frage: American Football ist der Sport, der die allerhässlichste Fratze des Kapitalismus repräsentiert. Er verlangt den Beteiligten körperlich und geistig alles ab, ruiniert ihre Gesundheit nachhaltig und löst nur für ein paar Hundert die Versprechen ein, die Millionen gemacht werden. Er ist das perfekte Abbild einer Leistungsgesellschaft, die sich selber über den Abgrund peitscht.
In den großartigen politischen Zeitschriften des Landes (die wichtigen zählt hier Brother Mouzone, der gefährlichste Mann Amerikas, stoisch auf) läuft gerade eine Debatte, die das NFL-Gebäude mehr als in Frage stellt, egal ob aus medizinischer oder ökonomischer Sicht. Dass sich hier junge Menschen mit allem Bösen, was die Pharma-Industrie bereithält, aufpumpen, um in sekundenlangen Einsätzen innerhalb einer kurze Spanne im Jahr für ein paar Seasons zu viel wie möglich rauszuholen - das wird in der breiten Öffentlichkeit aber nicht allzu kritisch gesehen: this is America. Und dort akzeptiert man Doping als Teil der Arbeitswelt, der Kultur.
Und im alljährlichen Superbowl, dem Finale der Football-Saison, kulminiert alles, unkontrolliert und auch unhinterfragt - so mächtig ist diese Institution; real und längst auch ideel.
Steelers gegen Packers, um drei Uhr früh
Im diesjährigen Final gestern Nacht (der Sieger stand um vier Uhr morgens fest; mir hängt das Schlafdefizit noch ordentlich nach) standen einander zwei klassische Teams gegenüber: die Pittsburgh Steelers und die Green Bay Packers.
Pittsburgh, Pennsylvania ist eine recht weiß und europäisch (Deutsche, Iren, Polen...) geprägte Stadt - dass das Team die in den 70ern und 80ern ein wenig heruntergekommene Stahl-Industrie im Namen trägt (zuvor waren sie "Pirates", das Stahl kam in den 40ern) zeigt, worum es geht: working class pride.
Star der Steelers ist der große böse Ben Roethlisberger, ein privat womöglich grindiger Quarterback mit Genieblitzen und ungewöhnlichen Ideen. Auch in der Superbowl ließ er den Schutz, den seine Rolle ihm eigentlich garantiert, außer acht und lief selber los, einmal sogar direkt, nachdem er sich das Knie verdreht hatte. Das zeugt von Unkonventionalität und Mut.
Chefcoach ist Mike Tomlin, und der ist nicht nur erst 38, sondern auch schwarz - im von Mächtigen mit weißen Gesichtern und Haaren durchsetzten NFL-Business eine allzu seltene Ausnahme. Die Steelers verfügen über eine gute Fankultur - die Anhänger schwingen gelbe Handtücher, die "terrible towels", und sie haben kein fixes Cheerleader-Team.
Besitzer der Steelers ist die Rooney-Familie. Dan, der Vorsitzende, aktuell Botschafter in Irland, ist einer der Erfinder der Salary Cap.
Eine für den sonst in entwurzelten Franchises aufgesplitterten Markt ungewöhnliche Mannschaft also.
Die Milchbauern und ihre furchtbaren Handtücher
Der Superbowl-Gegner aber, die Green Bay Packers, schlägt sie noch um einiges.
Green Bay ist eine Kleinstadt in Wisconsin am Lake Michigan, grademal so 100.000 Einwohner, für US-Verhältnisse also ein Dorf. Wisconsin gilt als Milch- und Butter-Staat, die Kuhbauern-Witze sind sofort bei der Hand.
Dass ausgerechnet dort, im nördlichen Middleof-Nowhere das Herz der uramerikanischen Sportkultur schlägt, wird außerhalb der USA, wo man gern gleichmacherisch über die veritablen Unterschiede der Union drüberwischt, gern übersehen.
Die Packers haben sich 1919 als Sportabteilung der Indian Packing Company formiert, die Packer füllten Dosenfleisch ab.
Dass dieser Traditionsverein nie verkauft, umbenannt oder verpflanzt wurde, hängt damit zusammen, dass man von Anbeginn an Maßstäbe setzte: von 1929 bis 1944 gewann man (unter dem legendären Curly Lambeau) sechs Meisterschaften.
Als dann die NFL gegründet wurde und sich die regionalen Ligen zu einer "Welt-Liga" zusammentaten, waren es wiederum die Packers, die (66/7) die beiden ersten Titel gewannen. Coach Vince Lombardi wurde gar zum Namensgeber der Superbowl-Trophäe.
Lombardi, Favre und die Non-Profit-Community
Die dritte Blütezeit erlebten die Packers dann unter der langen Regentschaft des legendären Quarterbacks Brett Favre in den 90ern. Zahlreiche Einsätze in Conference Finals und ein Sieg (1996). Und nur drei Jahre nach dem Rücktritt des Mannes, dessen Namen Ben Stiller in "Something about Mary" nicht so recht aussprechen kann, gewann ein vergleichsweise starfreies Team die nächste Superbowl. Mit vergleichsweise geradlinigem, aber unerhört versatilem Spiel, vielen immer anspielbaren Läufern, einem fast schon unauffälligen Quarterback, Aaron Rodgers. Und auch sie stellen keine Cheerleader.
Und bei der Übergabe der Vince Lombardi-Trophy, da fiel es auf: wie schwer sich die Offiziellen, der Commissioner bei der Übergabe taten. Sonst haben sie da einen Club-Besitzer, einen machtstrotzenden, weißen, weißhaarigen Tycoon als Gegenüber - diesmal waren es drei dezente Herren mit Packers-Caps.
Der Verein ist nämlich der einzige Club in der NFL, wahrscheinlich der einzige in den großen US-Sportligen überhaupt, der genossenschaftlich organisiert ist. Die Packers sind dezidiert "non-profit" und community-owned. Die "Green Bay Packers Inc." hat aktuell 112.158 Stockholder, ein paar tausend mehr, als Green Bay Einwohner hat. Es gibt einen Chairman und eine CEO, Beschlüsse werden aber gemeinsam gefasst, Besitzer im kapitalistischen Sinn gibt es keinen, Besitzer, im sozialistischen Sinn, sind alle.
Angewandter Capraismus
Inmitten all der vor Dreistigkeit strotzenden You-have-to-make-it-on-your-own!-Parolen, die große Sportarten wie der Football zutiefst befördern und im amerikanischen Bewusstsein tief verankern, steckt hier ein Spross der Gegenwehr. Das ist aber auch Amerika, das Amerika der Jimmy Stewart-Filme wie It's a Wonderful Life wo Frank Capra die tiefgreifende Community-Arbeit ironisch gebrochen als einzige Antithese zum drögen Raffzahn-Kapitalismus ausstellt.
Und das permenante Einstecken-Müssen als Tugend deklariert. So wie es die Packers auch tun - als sie in den 80ern plötzlich als Cheese-Heads beschimpft wurden (wir erinnern uns: Milch und Butter...), drehten sie den Spieß um und entwarfen die heute noch gültige Fan-Tracht: einen stilisierten Käse-Hut.
Dass es heuer also wieder einmal die Green Bay Packers sind, die dem Land zeigen, wo das Herz seiner zentralen Sportart daheim ist, hat etwas Rührendes, die Ära Obama möglicherweise Spiegelndes.
Auch wenn Obama für die Packers der Feind ist. Denn der ist natürlich für sein Heimteam, die Chicago Bears, und hat die anlässlich des Conference Final öffentlich unterstützt. Gegen die Packers. Die werden sich beim traditionellen Besuch der Superbowl-Gewinner im Weißen Haus mit bitterbösen Spitzen rächen.