Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Paranoia im Landhaus"

Anna Katharina Laggner

Film, Literatur und Theater zum Beispiel. Und sonst gehört auch noch einiges zum Leben.

7. 2. 2011 - 14:55

Paranoia im Landhaus

Thomas Glavinic' neuer Roman "Lisa"

Wer Lisa trifft, wird nie mehr jemand anderen treffen. Aber niemand hat Lisa jemals getroffen. Lisa existiert nur in Polizeiprotokollen. Und im Kopf eines Mannes, der sich mit seinem Sohn in einem Landhaus verschanzt. Aus der Einöde klinkt er sich jede Nacht via Internetradio in die Welt ein. Mit dem Satz "Ich bilde mir nicht ein, wahnsinnig viel über die Menschen zu wissen", beginnt sein Monolog, in dem er wahnsinnig viel über die Menschen im allgemeinen und über Lisa im Speziellen palavert.

Thomas Glavinic

Pertramer.at

Thomas Glavinic. Foto: Pertramer.at

Spuren von Lisas DNA finden sich bei einem Mann, dem die Gedärme einer Frau in den Mund gestopft sind, bei Menschen, die am Fleischerhacken bei lebendigem Leibe ausgeweidet wurden, bei einem Hund, dem Katzen in den Bauch eingenäht wurden, aber auch beim Diebstahl von sechs Hühnern und Hirse. Lisas kriminelles Motiv scheint einigermaßen inkonsistent. Dann hat sie noch den Laptop des Ich-Erzählers entwendet, dafür aber ein Taschentuch in der Wohnung hinterlassen. Kein Wunder, dass den Mann der Schiach angeht. Dass sich dieser Schiach kaum zersetzt, ganz im Gegenteil zu einer Horrorbestie auswächst, wenn man ihn mit nasenweise Koks und Viertelgläsern Schnaps füttert, liegt auf der Hand, ist dafür aber umso amüsanter. "Lisa" ist kein bedrohliches Buch, aber auch nicht unbedrohlich, "Lisa" ist kein lustiges Buch, aber auch nicht unlustig.

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Buchcover in rot: weit aufgerissene Augen

Hanser

Thomas Glavinic jagt einem mit präzise ausgeführten, blutrünstigen Details das Schaudern über den Rücken, im selben Atemzug wird der Ich-Erzähler zum Rohrspatz. Seine Schimpfkaskaden gipfeln in vernichtenden Urteilen über Performancekünstler (das werden nur solche, die sonst gar nichts können), über Kulturpessimisten (Streber), das Theater, um das es ein unglaubliches Ausmaß an Idiotie gäbe. Und Gott sei der König der Ursuppe.

Auch wenn "Lisa" genauso wie "Die Arbeit der Nacht" und "Das Leben der Wünsche" die großen literarischen Motive Liebe, Angst und Einsamkeit verhandelt, erinnert es in seiner ungeheuren Leichtfüßigkeit viel mehr an "Das bin doch ich". Thomas Glavinic, der sich laut eigenen Aussagen dauerbedroht fühlt, schafft in "Lisa" eine Lebensrealität, in der Bedrohung, Spaß und Hausmeisterkeppeln zu einem bewusstseinserweiternden Cocktail geshaked sind.