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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

2. 2. 2011 - 07:00

Wien-Sofia-Express

Meine letzte Reise mit dem alten Bus nach Sofia endete mit dem Weinen von Viktors Geige.

Ein klappriger, alter Reisebus stand auf dieser wenig befahrenen Straße. Es war knapp nach Sonnenaufgang, aber gleichzeitig lag flacher Nebel über der Ebene. Ein Bild wie aus einem Fellini-Film. Nur, dass die Situation, die sich zu entwickeln begann, keine Filmszene war. Dieser Bus war echt und hatte es aus dem fernen Sofia bis hierher, knapp hinter die österreichische Grenze zu Ungarn, geschafft. Und ich saß in diesem Bus, als die Grenzpolizei, die es nach wie vor gibt, entschied, den Bus anzuhalten und zu perlustrieren. Alle Passagiere mussten aussteigen, alle Gepäckstücke ausgeladen werden.

Und unter diesen vielen Koffern, Rucksäcken, Plastiksäcken, Kanistern, 30-kg-Käsedosen und zusammengeschnürten Tuchenten war auch ein Geigenkasten. Der Geigenkasten und die Geige darin gehörten meinem Bus-Sitznachbarn. Viktor war ein junger Musiker auf dem Weg nach Wien, um im Konservatorium vorzuspielen. Als die zwei Grenzpolizisten den Geigenkasten fanden, war in ihren Gesichtern deutlich zu lesen, was sie gerade dachten: Ein Zigeuner auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz im Wiener U-Bahn-System.

Also sagte der Polizist: „Wem gehört die Geige?“
Viktor sagte: „Mir ... das ist meine!“
Dann sagte der Polizist: „Spielen Sie!“

Wie gesagt: Alles sehr filmisch. Einsame Straße, Sonnenaufgang, Nebel, Menschen vor einem Bus, Uniformierte, Befehle bellend.

Das kann man eben nur „on the road“ erleben. Im Bus von Wien nach Sofia. Oder in der umgekehrten Richtung.

Ich fahre sehr oft mit diesem Bus und erlebe oft Begegnungen mit Menschen, die, wie ich, aus dem einen oder anderen Grund, diesen Bus zwischen Wien und Sofia benutzen. Hier kommt man, zahlt und steigt ein...

Die Sitze in diesen alten Setra-Reisebussen haben oft erhebliche Abnützungserscheinungen. Das hält wach. Oder Sitznachbarn, die nichts wachhalten kann und die viele Stunden auf meinen Knien liegen. Wie Maria, eine etwas dickliche Roma auf dem Weg nach Wien. Maria ist eine Witwe und kommt aus der Kleinstadt Ihtiman.

Nachdem ihr Mann verstorben ist, übergab Maria das gemeinsame Lebensmittelgeschäft den beiden Söhnen – und machte sich auf die Suche nach einem neuen Mann. Den fand sie auch bald über eine Partneragentur. Robert arbeitet auf einer Tankstelle in Wien. Maria ließ sich Roberts Briefe übersetzen, sah sein Bild und verliebte sich unsterblich.

Sie sagte zu mir: „Er ist so anders als die Männer in Ihtiman! Er ist ein Gentleman! Und nie zuvor sah ich so schöne Zähne und so eine weiße Haut ...“

Eine andere Reise im Wien-Sofia-Express ließ mich auf Herrn Georgiev, den Kunstlehrer, treffen. Herr Georgiev stammte aus einer kleinen bulgarischen Schulstadt und war mit seiner Klasse unterwegs nach Wien. Herr Georgievs Schüler taten was alle losgelassenen Teenager tun, wenn die Eltern erst mal 700 km weit weg sind: sie tobten im Bus und erfreuten sich des Losgelassenseins und der enormen Entfernung von den Eltern.

Herr Georgiev aber, war aufgeregt! Nicht wegen seiner hirnlosen Schülerhorde. Herr Georgiev war aufgeregt, wegen Herrn Klimt! Der kleine Kunstlehrer aus der bulgarischen Provinz erfüllte sich mit dieser klapperigen Reise einen Wunschtraum: Auf Armlänge vor dem Werk des großen Herrn Klimt zu stehen.

Meine letzte Reise endete mit dem Weinen von Viktors Geige. Da, auf dieser nebeligen Straße, bei Sonnenaufgang, befahl der Polizist: „Spielen Sie!“

Und Viktor spielte. Ich weiß nicht, was er spielte. Als er aufhörte, schwiegen alle. Die Passagiere, die Fahrer, die Polizisten. Die Straße schwieg, die Vögel schwiegen, die Felder schwiegen. Kein Windhauch. Der Nebel hob sich, ganz langsam, und der Sonnenaufgang griff nach unseren Herzen.

Ich bin mir sicher, dass man Viktors Geige nie in einer U-Bahn in Wien hören wird.