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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

3. 2. 2011 - 11:55

Keller fehlt ein Wort

In Patrick Tschans Roman vergisst ein Kommunikationsberater immer mehr Wörter. Woraus trinkt man gleich nochmal Kaffee?

Alles beginnt damit, dass Ralph Keller eines Morgens etwas aus dem Schrank nimmt und nicht mehr weiß, wie es heißt. Er schenkt sich Kaffee in dieses Ding, gießt einen kräftigen Schluck Milch nach und süßt das Ganze mit etwas Zucker. Aber wie heißt dieses Objekt? Es ist eine ganz gewöhnliche...? Er hat sie in diesem schwedischen Einrichtungshaus gekauft. Geschwungener Henkel, verdickter Trinkrand. Auf den Boden lässt sich lesen: "Winterling, Cucunia, German Bavaria". Damit kann Keller nichts anfangen, vor allem da er sicher nicht nach "German Bavaria" sucht. Das Wort wird wohl wieder kommen, denkt er. Aber das tut es nicht.

Eine Tasse

flickr.com/tinawolf

Wtf?

Keller verliert Wort für Wort

Patrick Tschan: "Keller fehlt ein Wort" Cover

Braumüller

Patrick Tschan: "Keller fehlt ein Wort" ist 2011 im Braumüller Literaturverlag erschienen.

Erste peinliche Momente passieren im Kaffeehaus. Will man ein Kännchen oder einfach nur eine...? Das Wort raubt Keller die Konzentration, liegt ihm auf der Zunge, kriecht in den Hinterkopf und versteckt sich für immer. Doch damit hört es nicht auf. Beim Metallwarenhändler möchte er sich etwas kaufen. Er weiß nur, dass es ein verstellbarer Schlüssel ist, mit dem man Schrauben und Muttern öffnen kann. Aber er hat keine Ahnung, nach was er den Verkäufer fragen soll. Auch im Berufsleben wird die Vergesslichkeit immer mehr zur Bredouille. Ralph Keller ist Kommunikationsberater (!), humorvoll, sprachgewandt, mitten im Leben stehend. Und jetzt fallen ihm bei einer Präsentation die einfachsten Wörter nicht mehr ein. Aber es kommt noch schlimmer: Statt der korrekten Wörter, sagt er falsche. Aus dem "Schulraumbeauftragten" wird der "Kantonsarchäologe". Wie bitte?

Da sich die peinlichen Momente häufen, geht Keller zum Arzt. Dieser belächelt ihn lediglich und schickt ihn nach Hause. Ein paar Tage später, die Wörter sind immer noch nicht da, wird Keller schwindelig, er erbricht. Den Notarzt kann er nicht rufen, denn er kann nun gar nicht mehr sprechen. Als man ihn findet, steht die Diagnose fest. Hirnschlag.

Keller lernt das Wort Aphasie

Tipps:

  • 4. Februar: Mehr zu "Keller fehlt ein Wort" inkl. Interview mit dem Autor Patrick Tschan in FM4 Connected (15-19 Uhr)
  • 11. Februar: Patrick Tschan liest aus seinem Buch im Literaturhaus Schanett in Hohenems, Vorarlberg (20h).

Ralph Keller, 46, hat noch einmal Glück gehabt. Im Krankenhaus erklärt man ihm, dass er bereits früher einen Hirnschlag gehabt haben müsse. Und tatsächlich: Vor einigen Monaten im Kino, während einer Vorstellung von Stanley Kubricks "Eyes Wide Shut", klagte Keller über Kopfschmerzen und Schwindel. Doch nach einer Weile ging es wieder. Der zweite, heftigere Hirnschlag hat jedoch schwerwiegendere Folgen: Einige Blutbahnen der linken Gehirnhälfte sind so stark beschädigt, dass das bereits angeschlagene Sprachzentrum fast vollständig zerstört ist. Im medizinischen Fachjargon nennt man dies Aphasie: Das bedeutet Sprachverlust. Es beginnt mit einzelnen Wörtern, die fehlen, nicht mehr ausgesprochen werden können, und kann wie in Kellers Fall mit dem Verlust des Schreib- und Lesevermögens enden. Keller kann nur noch einzelne Laute würgen. Obwohl er geistig auf voller Höhe ist, kann er nicht einmal mehr eine 160-Zeichen-SMS formulieren.

Medikamente gibt es nicht. Therapieansätze sind nur ein Versuch. Was bleibt, ist, alles neu zu erlernen. Mit einer Sprachtrainerin versucht Keller wieder sprechen zu lernen. Aber in der Zwischenzeit sieht sich Keller mit seiner stummen Identität konfrontiert: Frust, Wut und Verzweiflung sind die Folge. Seine Tage verbringt er in Einsamkeit, seinen Job kann er nicht mehr ausüben. Als schließlich Kellers Sohn wieder in sein Leben tritt, wird alles es noch schwieriger. Denn mit diesem hat Keller seit zehn Jahren kein Wort gewechselt. Und wie soll ihm das bitte gerade jetzt gelingen?

Der Schweizer Autor Patrick Tschan

Stefan Bohrer

Patrick Tschan, Autor und Hobby-Kicker

Sprachverlust = soziale Ausgrenzung

Der Schweizer Autor und Dramatiker Patrick Tschan verarbeitet in "Keller fehlt ein Wort" ein zutiefst tragisches Schicksal. Wie wichtig Sprache, das Verstehen und die Formulierung von Zeichen, für unser soziales Netz sind, weiß man nicht erst seit dem Linguisten Ferdinand de Saussure. Tatsächlich ist Sprache die größte kulturelle Leistung der Menschheit, eine Konvention auf breiter Basis und gleichzeitig der notwendige Faktor, um durch Kommunikation ein Teil eines sozialen Gefüges zu sein. Was selbstverständlich klingt, wird in "Keller fehlt ein Wort" aufs Alltägliche heruntergebrochen. Wie teilt man z.B. all seinen Freunden und Bekannten, all seinen Kontakten am Handy, mit, dass man nicht mehr reden kann? Man kann weder sprechen, noch schreiben und von Zeichensprache hat man keine Ahnung. Also wie?

Weitere Leseempfehlungen:

Durch diesen Roman lernt man als Leser ein neues Wort: Aphasie. Eigentlich gar kein schwieriges Wort. Es beinhaltet allerdings wahrhaftigen Horror, nämlich das langsame Vergessen der Sprache. Man bekommt aktiv mit, wie das einst selbstverständliche Handwerk zu bröckeln beginnt. Patrick Tschans Trumpf in diesem Roman ist sein Protagonist, dem man regelrecht zurufen möchte, was ihm entfallen ist. Und für dieses literarische Kunststück sollte man "Bravo" sagen. Solange wir es noch können.

Übrigens: Das gesuchte Wort lautet "Tasse" oder auch "Häferl".