Erstellt am: 31. 1. 2011 - 16:13 Uhr
Heute hat die Polizei meine Mutter mitgenommen
Eine Schande, sich der Kunst zu bedienen, um Scheußlichkeiten zu verhüllen, sagt ein Lehrer. Wohntürme benannt nach Simone de Beauvoir, Picasso oder Victor Hugo. Grottenhässlich allesamt. HLM, also soziale Wohnbauten, die in den Banlieues von Paris auf grau betoniertem Untergrund stehend grau in den Himmel ragen. "Rimbaud und die Dinge des Herzens" spielt irgendwo dort, von wo uns die Nachrichten über brennende Autos nun schon länger nicht mehr ereilt haben und berichtet davon, dass die Kinder sich dort den Realitäten des Lebens nicht nur steineschmeissend stellen.
Aufbau Verlag
Charly, der zwölfjährige Protagonist und Ich-Erzähler der Geschichte, wohnt im Rimbaud-Turm. Seine Assoziationen sind sprunghaft, sein Mundwerk das, was man als Goschn bezeichnet. Da aber seine kleinkriminelle Energie verschwindend klein ist, wird er es nie zum Banlieue-Wüstling bringen. Charly gehört schlicht zum Durchschnitt: er lebt allein mit seiner Mutter, sie stammt aus Mali, der Vater, ebenfalls aus Mali, ist auf Nimmerwiedersehen und ohne jemals Geld abzusondern verschwunden. Manchmal taucht Charlys älterer Bruder auf, ein Junkie.
Mein Bruder Henry zum Beispiel fehlt mir oft. Er ist ein absoluter Vollidiot, ich weiß, aber wenn ich im Bett liege, abends, vorm Einschlafen, und beschließe, dass er mir fehlt, dann fange ich sofort an zu weinen.
Das Leben im Banlieue
Charly befindet sich in jenem pubertären Zustand, in dem man vom Rockzipfel der Mutter aus moralische Urteile über die Missstände der Welt hinausposaunt. Es ist genial, wie wenige Worte dem Autor Samuel Benchetrit genügen, um diese emotionale Verfassung aufzubauen. Und sobald er sie aufgebaut hat, nimmt er seinem vifen Helden den Schutzschild.
Denis Rouvre
Charly wird in der Früh Zeuge, wie seine Mutter von der Polizei abgeführt wird. Um sie aus den Fängen der Exekutive zu befreien, unternimmt Charly einen Hindernisparcours durch das Wohnviertel und wird zu einem Reiseführer durch das Leben im Banlieue. Auf der Suche nach seinem Bruder Henry gelangt er in ein aufgelassenes Einkaufszentrum, wo Spritzen und verrostete Kaffeelöffel am Boden liegen und ihm ein - wie er sagt - Riese nach dem Leben trachtet. In der 10-Uhr-Pause besucht er seine Schulfreunde, die mutmaßen, die Mutter hätte einen Dealer umgelegt. Auch der Bruder, den er schließlich auf einem nebligen Hügel findet, ist wenig hilfreich. Er gibt ihm lediglich fünf Euro für den Bäcker. Unterwegs erzählt Charly, was ihm gerade einfällt: ein Zappen durch Erlebtes, Erdachtes und Erwünschtes.
Weitere Buchrezensionen
Herz und Schmerz
Der französische Originaltitel von "Rimbaud und die Dinge des Herzens" lautet "Le Coeur en dehors", im Deutschen etwas holprig mit "Das Herz außerhalb" zu übersetzen. Gerade da die Romanübersetzung von Olaf Matthias Roth so feinfühlig und elaboriert ist, tut der plumpe deutsche Titel ziemlich weh. Denn um Herzschmerz geht es Samuel Benchetrit überhaupt nicht. Benchetrit, der selbst in einer HLM aufgewachsen ist, sagt, durch seine Kindheit ziehe sich ein Schmerz, der sich auch in diesem Buch manifestiere. Benchetrit erzählt von Dingen, die stattfinden, ohne dass Charly darauf Einfluss nehmen könnte und ihn dabei so unvermittelt treffen, dass es ihm kalt wird ums Herz. Es geht um Dinge, die man erlebt, während man älter wird, um sie dann altklug Erfahrung zu nennen. Eigentlich aber könnte Charly ohne diese Erfahrungen auch sehr gut leben. Dann würde nämlich den Dingen in seinem Herzen nicht ganz so kalt sein.