Erstellt am: 26. 1. 2011 - 06:33 Uhr
Tränen über dem Bosporus
Am Anfang waren Mitch, Ritch und Caroline. Kurz nach dem Fall der Mauer eroberten die endlosen Dramen wohlhabender amerikanischer Familien die Wohnzimmer der Bulgaren. Sowohl in den Plattenbausärgen der Städte, als auch in den engen und nach Tierkot und Zwiebel riechenden Stuben der Dörfer staunen Jung und Alt zwei Jahrzehnte lang über die wundersamen Liebesbeziehungen der Famillie Forrester aus Los Angeles. Seit Anfang der 90er Jahre ist die Serie „The Bold and the Beautiful“ (bzw. "Reich und Schön") ein Dauerbrenner im bulgarischen Fernsehen. Nicht mal das Eindringen der Reality Shows in die Fernsehlandschaft hat geschafft, der Sendung das Wasser zu reichen.
Die Story ist gleichzeitig einfach und unglaublich verwirrend. Junger Sohn verliebt sich in reife Frau. Seine Familie ist dagegen, aber der Vater steht heimlich auf die Tochter der Geliebten seines Sohnes. Ein paar Hundert Folgen später lässt sich der Vater von der Mutter scheiden und heiratet die junge Tochter. So wird er offiziell seines Sohnes Schwiegersohn. Die Mutter nimmt es gelassen, denn sie hat eine heimliche Affäre mit dem Ex-Mann der Frau des Sohnes, den sie auch irgendwann heiratet und wird gleichzeitig zur Schwiegermutter und Mutter des Sohnes. Oder so ähnlich. Ganz klar, oder? Alle 100 Folgen wechseln die Partner und sind mal glücklich, mal total deprimiert. Wie ein Freund von mir meint, "Es ist total egal, was passiert. Hauptsache, die Hausfrauen können von der Küche aus mithören, ohne auf den Bildschirm zu schauen, wo sich das Drama abspielt".

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Wenig später betreten Luis Ignacio, Eduarda und der böse Don Fernando die bulgarische Fernsehlandschaft. Die lateinamerikanischen Serien ersetzen die US-amerikanischen in Wohnzimmer und Herz der Bulgaren. Die Kolumbianer und die Brasilianer sind um einiges temperamentvoller als ihre Amikollegen - ihre Mentalität passt ganz gut zu den Balkanesen. Als Osvaldo Rios, Star einiger dieser Serien, Mitte der 90er Sofia besucht, wird er von hunderttausenden Fans am Flughafen begrüßt. Nicht mal der Papst, Bill Clinton oder Wladimir Putin lösten je so viel Aufregung aus.
Heute bewegen Mehmet, Indzhi und Ali die Bulgaren. Seifenopern aus der Türkei sind ein Riesenhit auf dem ganzen Balkan. Ihre Produktion beschäftigt mehr als 150000 Menschen und das damit verdiente Werbeinkommen beträgt mehr als eine halbe Milliarde Euro - allein in der Türkei. Im Jahr 2010 wurden insgesamt 70 verschiedene türkische Serien ins Ausland verkauft. Eine Episode kostet die Fernsehsender bis zu 150000 Euro. Besonders populär sind solche Serien im nahen Osten und auf der Balkanhalbinsel. In Bulgarien laufen momentan sieben verschiedene türkische Serien, wobei allein der größte bulgarische Privatsender BTV vier davon ausstrahlt.
Die türkischen Seifenopern flimmern nach dem gleichen Konzept über die Fernsehschirme, wie zuvor amerikanische und brasilianische. Alle Mitspieler sind reich, schön und fesch angezogen. Frauen tragen keine Kopftücher und sehnen sich nach Beziehungen mit schönen Männern.. Doch der Moment, wo die patriarchalen Traditionen auf das moderne Leben der Protagonisten treffen, ist ein zentraler Punkt der Handlung: Das Familienoberhaupt ist ganz und gar nicht einverstanden mit den frivolen Liebesbeziehungen seiner Nachkommen. Er leidet auf seine Weise, die Familie auf ihre. Die unzähligen Zuschauer leiden mit.
Manchmal stelle ich mir vor, ich bin der Held so einer Serie. Dann hätte jedes Problem in meinem Leben eine radikale, aber einfache Lösung - wie es bei vielen meiner Bekannten so oft der Fall ist. Sogar Wien kommt mir dann wie Istanbul vor. Wenn ich die Moschee auf der anderen Seite der Donau betrachte, ist die Illusion fast perfekt. Allerdings muss ich mich dabei ständig selbst ohrfeigen, um die Schneeflocken zu verjagen. Das lässt mich schließlich doch nicht vergessen, wo ich bin.