Standort: fm4.ORF.at / Meldung: ""Today, the main journalist in Tunisia is people""

Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

21. 1. 2011 - 19:03

"Today, the main journalist in Tunisia is people"

Die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensedrine über die aktuelle Lage in Tunesien und die Rolle digitaler Medien im Vorfeld der Revolte.

Sihem Bensedrine engagierte sich für Pressefreiheit und die Einhaltung der Menschenrechte. Sie ist Gründungsmitglied des Nationalen Rats für Freiheit in Tunesien (CNLT) und betreibt die in Tunesien bis vor Kurzem verbotene Online-Zeitung Kalima.

2001 wurde sie nach Publikationen über Korruption und Folter festgenommen und inhaftiert. Mehrfach wurde das Büro ihres Radiosenders durchsucht, Bensedrine wurde überfallen und zusammengeschlagen.
Sihem Bensedrine wurde 1950 in Tunis geboren.

Am Morgen des 14. Jänner, am Tag, als der tunesische Präsident Zine El Abidine Ben Ali fluchtartig das Land verließ, kehrte die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensedrine in ihre Heimat zurück.
Nach Jahren im europäischen Exil, die Bensedrine u.a. als "Writer in Exil" in Graz verbracht hat, ist die Oppositionelle zurück in Tunis.

Mari Lang und ich sprachen mit ihr über die aktuelle Lage in Tunesien, die Auswirkungen der Revolte auf die Medienlandschaft des nordafrikanischen Landes und den Einfluss von digitalen sozialen Netzwerken auf die realpolitischen Entwicklungen.

Aufgrund ihrer Tätigkeit als Journalistin bekamen Sie die Gewalt des Regime Ben Alis am eigenen Leib zu spüren. Sie wurden inhaftiert, bekamen Drohungen. War es Ihnen überhaupt möglich, in den vergangenen Jahren nach Tunesien einzureisen?

Ich war in Hamburg, in Graz und zuletzt in Barcelona und habe Tunesien immer wieder besucht. Aber Ende 2009 hat sich die Situation für mich drastisch verschärft. Ich erhielt Todesdrohungen und wurde in einer Zeitung, die mit dem Geheimdienst in Verbindung stand, der Spionage beschuldigt. Es wurde behauptet, ich würde mit dem israelischen Geheimdienst, mit Deutschland und Österreich zusammenarbeiten. Diese Anschuldigungen sind sehr gefährlich in einem Land wie unserem. Klar wissen die Menschen, dass die Journalisten lügen und nicht die Wahrheit schreiben. Die Anschuldigungen waren natürlich in keinster Weise wahr. Aber sie waren ein Versuch, mich in den Dreck zu ziehen und zu diffamieren.

Was haben Sie gemacht, dass Sie als solche Bedrohung für das Regime Ben Alis gesehen wurden?

Ich habe ihren Zorn auf mich gezogen, weil ich mich vehement bei europäischen Institutionen zu Wort gemeldet habe. Ben Alis Regime war dabei, mit der Europäischen Union einen fortgeschrittenen Partnerstatus auszuhandeln. Tunesische NGOs und ich haben uns engagiert, dass es zu allererst eine bedingte Partnerschaft wird und die tunesische Regierung aufgefordert wird, ihr Bekenntnis diesem Abkommen mit Europa entsprechend einzuhalten. Denn die Menschenrechtsverletzungen waren schlimmer als zuvor und die Strenge der Diktatur war härter. Als Reaktion auf unsere Forderungen wurden wir der Spionage beschuldigt. Im Juni 2010 beschloss das Regime eine Änderung im Strafgesetzbuch, dass diese Fürsprachen bei der Europäischen Union und bei den Vereinten Nationen in die Nähe der Spionage rückte. Zwölf Jahre Gefängnis und der Entzug der Staatsbürgerschaft drohten als Strafe. Nicht nur in den Zeitungen wurden diese Strafen für mich gefordert. Ein Gerichtsverfahren gegen meinen Mann, den Direktor von Radio Kalima und mich wurde eröffnet. Darum habe ich Tunesien nicht mehr betreten. Bis zum 14. Jänner.

Die tunesische Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensedrine

Internationales Haus der Autoren Graz

Jetzt sind Sie zurück. Haben Sie Ihr Heimatland wiedererkannt? Hat es sich sehr verändert?

Die erste Veränderung habe ich am Flughafen erlebt. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich nicht von Kopf bis Fuß komplett durchsucht. Diese strengen Kontrollen, dieses sehr böse Willkommen-Heißen der Polizei und von Sicherheitsleuten - manchmal wurde ich am Flughafen geschlagen - gab es nicht. Zum ersten Mal sah ich diese Sicherheitsleute nicht. Das war der erste Schock. Doch als ich gelandet bin, war Tunesien noch nicht frei. Der Diktator war noch an der Macht. Gleich vor dem Flughafen habe ich Scharfschützen in Tunis Air-Bussen gesehen. Ich fürchtete mich zutiefst. Und ich befürchtete, Tunesien könnte ein Land wie der Irak oder derart werden.
Und ich bin im Nachhinein sehr glücklich über die Antwort der tunesischen BürgerInnen auf diese unsichere Lage, nachdem sich der Diktator abgesetzt hatte. Sie reagierten sehr verantwortungsbewusst. Die Leute bildeten eine Art Bürgerwehr-Komitee, in jeder Stadt im ganzen Land, und sie haben die BürgerInnen geschützt. Einige von ihnen wurden getötet, während sie sich an diesen Aktionen beteiligten. An die 42 Menschen wurden so in den ersten zwei Tagen, nach der Flucht Ben Alis, getötet. Aber nach diesen Tagen war die Lage okay. Diese Bürgerwehr-Komiteen waren in der Lage, sich selbst zu schützen und diese Milizen der zuvor regierenden Parei sowie frühere Sicherheitskräfte festzunehmen und zur Armee zu bringen, die sich zu diesem Zeitpunkt zurückgezogen hatte.

Aber wenn Sie jetzt ausgehen, wie ist die Stimmung auf den Straßen?

Wir sind achtsam, weil wir wissen: es ist noch nicht vorüber. Aber die Situation ist nun viel sicherer, und die Menschen sind sehr umsichtig und verhalten sich sehr verantwortungsvoll. Ich bin sehr stolz auf das tunesische Volk. Weil sie wissen, wie sie nicht ins Chaos stürzen. Sie wollen kein Chaos. Ich bin sehr glücklich, dass sie erfolgreich waren, diese Gunst der Stunde nicht an die Feinde der Demokratie abzugeben oder unsere sehr junge Demokratie zu gefährden.

Sie arbeiten als Journalistin?

Ja, wir leiten die Radiostation Kalima. Wir kümmern uns um eine Frequenz im Land für unsere Radiostation. Seit der Revolte berichten wir permanent, was in jeder Stadt in Tunesien passiert. Ich weiß nicht, ob Sie das wissen: Im Jänner 2009 haben wir begonnen, von unserem Studio in Tunis aus via Satellit in Italien zu senden. Doch sie haben unsere Radiostation blockiert, beschlagnahmten das gesamte Equipment, begannen ein Verfahren gegen uns, nahmen unsere Journalisten fest und überwachten permanent unsere Wohnung. Vor drei Tagen sind wir zurückgekommen. Wir haben die versiegelte Tür unseres Büros geöffnet. Sie können sich vorstellen, in welchem Zustand die Räumlichkeiten waren. Wir haben Stühle und einen Tisch. Auch die Wasserleitungen und die Stromleitungen wurden gekappt. Wir arbeiten daran, das Studio wieder einzurichten, neues Equipment zu bekommen und den Sendebetrieb von hier in Tunis aus wieder aufzunehmen. Zurzeit befinden sich unsere technischen Einrichtungen in Deutschland, Belgien, Frankreich.
Jetzt müssen wir hier von vorn anfangen. Aber wir sind sehr glücklich, weil wir denken, wir verfügen nun über unseren öffentlichen Raum. Wir verfügen über unsere Zukunft. Und unsere Leute sind sehr, sehr mutig. Und wir sind sicher, wir werden erfolgreich sein, diese so junge Demokratie aufzubauen. Wir sind komplett in der Lage, die Demokratie ohne Bedrohung von Extremisten aufzubauen. Wir haben eine Wahl: Demokratie, Demokratie und noch einmal Demokratie.

Ihr Land hat eine Geschichte der Diktatur hinter sich. Wie könnte der Weg zur Demokratie aussehen? Was bestärkt Sie, zu glauben, dass Ihr Land bald eine Demokratie erleben wird?

Sie wissen, das wird Zeit brauchen. Wir haben keine Eile. Es gibt Schritte, die man erreichen muss. Jetzt gerade werden in vielen Ämtern und Institutionen neue Chefs bestimmt. Korrupte Leute des früherem Regimes müssen ihre Plätze verlassen. Es herrscht keine Anarchie, es herrscht kein Chaos. Alle arbeiten. Die Leute sind wirklich immens willens, die Sache richtig anzugehen. Die Leute bleiben nicht zuhause, alle Geschäfte haben ihren Betrieb wieder aufgenommen. Einige europäischen Firmen haben das Land verlassen. Wir möchten ihnen sagen: Sie müssen sich nicht vor unserem Volk fürchten! Wir sind keine Anarchisten. Wir werden unser Land erneuern. Sie können ihre Meinung ändern und zurückkommen, und tun, was sie tun können, um unsere Ökonomie nicht zu gefährden.

Wie steht es um andere Medien? Gibt es große Veränderungen in der Medienlandschaft? Gibt es neue Zeitungen, können Journalisten nun frei berichten?

Ja, es ändert sich sehr viel. In den privaten Medien, die sich im Besitz der Familie Ben Alis befanden, und in den staatlichen Medien, die zur Regierung gehörten, bilden Journalisten neue Redaktionen. Und sie arbeiten, ohne alles mit dem obersten Vorgesetzten abzusprechen. Einige wurden aus den Redaktionen gedrängt. Die wichtigsten Medien waren im Besitz der Familie Ben Ali. Etliche Journalisten sind inhaftiert. Gerade ist die Freilassung inhaftierter, regimekritischer Journalisten im Gange. Es ist eine Übergangssituation. In jeder Institution, in jeder Firma, in jedem kleinen Unternehmen kann man beobachten, dass die Leute ihre Zukunft in die Hand nehmen und gute Entscheidungen treffen. Was Tunesien heute braucht, ist, eine neue Regierung. Alles neu zu aktivieren. Ich denke, soweit funktioniert es. Aber es gibt natürlich eine Gefahr: Die Machthabenden des Regimes haben keine Privilegien mehr und sie haben Angst. Vielleicht wird man sie vor Gericht stellen. Vielleicht versuchen sie die Entwicklungen zu sabotieren. Das ist ein Risiko. Aber wir sind wachsam und stellen uns diesem Risiko.

WikiLeaks veröffentlichte Depeschen, die US-Diplomaten von der amerikanischen Botschaft in Tunesien nach Washington meldeten. Darin wurde das Herrschaftssystem Ben Alis als "mafiaähnlich" beurteilt und festgehalten, dass unter dem Vorwand, den islamischen Extremismus zu bekämpfen, Medien, Gewerkschaften und Opposition rücksichtslos unterdrückt werden.

Ich habe gehört, dass die Menschen in Tunesien eher TV-Stationen wie Al Jazeera oder ausländische Nachrichten verfolgen?

Ja, das stimmt. Ausschlaggebend war als erstes Facebook. Über Facebook tauschten sich junge Leute aus, sie veröffentlichten ihre Videos von der Straße und verbreiteten sie. Das zweite Medium war Al Jazeera. Die Menschen hingen jeden Tag vor den Fernsehern. Al Jazeera hat täglich berichtet, der Sender hat viele Leute vor Ort. Doch die Anzahl der Reporter könnte man verzehn- und verzwanzigfachen. Denn die Menschen bringen Al Jazeera Informationen und Neuigkeiten, sie bringen Bilder und Videos. Gegenwärtig ist der wichtigste Journalist in Tunesien das Volk. Normale Leute.

Wie wichtig war WikiLeaks Ihrer Meinung nach?

Ah ja. Eine gute Frage. Ich denke, WikiLeaks hat eine wichtige Rolle gespielt. Sie müssen wissen, Tunesier sind gebildete Leute. Sie haben von WikiLeaks erfahren und all diese Botschaftsdepeschen der amerikanischen Diplomaten verbreitet. Und sie haben verstanden: Nicht nur sie mögen dieses Regime Ben Alis nicht. Nicht einzig sie schätzen dieses Regime nicht. Sondern auch die USA denken, dass Ben Ali derjenige ist, der Tunesien beherrscht. Das war etwas, das den Mut, die alte Ablehnung gegen das Regime kund zu tun, angekurbelt und in Gang gesetzt hat.