Erstellt am: 19. 1. 2011 - 22:30 Uhr
Der Himmel voller Geigen
Die aktuelle Ausgabe
des Popmagazins Spex widmet ihre Titelgeschichte einem der aufregendsten und innovativsten Disco und Dance Acts unserer Tage. In dem umfassenden Portrait wird allerdings ein nicht unwesentlicher Aspekt der Entstehung des neuen Hercules And Love Affair Albums ausgeblendet. "Blue Songs" ist u.a. auch in Wien entstanden, beziehungsweise wurde dem Nachfolgewerk zum namenlosen Erfolgsalbum aus 2008 eben dort der finale Schliff verpasst. Chefhercules Andy Butler verbrachte insgesamt drei Monate in good old Vienna und das ging so:
Hercules And Love Affair
DJ Marflow, Österreichs No. 1 Hipster mit internationaler Strahlkraft, hat Andy Butler im Rahmen eines Auflege-Jobs in New York kennengelernt. Marflow ist ein instinkt- und stilsicheres Bürschen, das im Gegensatz zu anderen Gestalten der Nacht nicht krampfhaft internationalen Reputationsaufbau betreibt. Wie zufällig landet er zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen Orten und ist im Big Apple mittlerweile ein gern gesehener DJ und Gast bei Granden wie Moby, James Murphy oder Glam Events wie der Fashion Week, wo’s dann auch schon mal eine DJ Marflow Animationsstunde vor einem Lady Gaga Auftritt spielt.
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Bei einem dieser Ausfüge
hat Marflow Andy Butler in einer Bar um ein Fanfoto gebeten. Disco als gemeinsamer Nenner steht am Anfang einer Freundschaft, die Butler in Folge auch privat nach Wien führte. Im Sommer 2009 kam er mit ersten Songs für ein neues Hercules Album. Einen Marflow-Vorschlag später landete Butler im Feedback Studio im 5. Wiener Gemeindebezirk. Das ist die Klangschmiede des Wiener Techno Pioniers und Avant-Jazz Tüftlers Patrick Pulsinger, dessen Name Butler wiederum von Pulsingers Residency im New Yorker Lime Light Anfang der 90er Jahre mehr als geläufig war („he’s a legend!“).
Butler war auf der Suche nach alten Synths, ein Faible, das ihn später auch mit Mark Pistel aus San Francisco connecten sollte. Das Ex-Mitglied der etwas nervigen Live-Diskurs Truppe Consolidated – ich erinnere mich vage an ein ziemlich kontraproduktives Konzert im U4 in Wien – und den leftfield Elektronikern von Meat Beat Manifesto ist ebenfalls als Producer am neuen Hercules Ding vertreten, angeheuert über die gemeinsame Liebe für altes elektronisches Klangspielzeug.
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In Pulsingers Fundus stieß Butler ebenfalls auf Gold. Im November kam Butler dann wieder, hatte da schon beinahe alle Songs für das nächste Album beisammen und verpflichtete Pulsinger endgültig als Engineer für das neue Langformat.
Christian König
In den Staaten war Butler zurück in seine Geburtsstadt Denver gezogen. New York nervte und der ehemalige Fitness-Trainer wollte sich etwas locker machen für die Neuauflage seines Dance Projekts. Nach dem völlig unerwarteten Erfolg des Debütalbums, allen voran die Homo-Selbstermächtigungshymne "Blind", die in vielen Kritiker und Lesercharts der Jahreswertung 2008 ganz oben landete, musste für die Post-Antony Phase ein neuer Ansatz gefunden werden.
Antony Hegarty,
die gewichtige Engelsstimme von Antony And The Johnsons, war zwar von Anfang an nur Gast bei Hercules And Love Affair. Doch das unvergleichliche Idiom des Gender-Bender Sängers prägte das Album genau so wie die federnden Deep House Basslines und gekonnt gesetzten Disco Referenzen. Der Erfolg erhöhte den Druck, wie Butler im FM4-Interview in Berlin unumwunden zugab.
Moshi Moshi
Der Ausweg: Butler vertiefte und erweiterte bestehende Ansätze anstatt mit neuem Line-Up (von der Gründungstruppe ist nur noch Kim Ann Foxman mit an Bord) den alten Sound zu entsorgen. Die Nabelschau in Sachen New York Disco History scheint zwar vorläufig abgeschlossen, mit Ausnahme einiger Sounds und Breaks wie im formidablen Eröffnungsstück "Painted Eyes", doch der geschichtsbewusste Herzschrittmacher hält auch in "Blue Songs" den Kreislauf in Schwung. Deep House, EBM, früher 90ies Techno und Industrial belegen Butlers Liebe für allerlei Zwitschermaschinen der Baujahrzehnte 70, 80 und 90. Neben dem Scat Gesang, 4/4 Beatgeschmeide und der menschenfreundlichen Auslegung schrofferen Soundmaterials, hat Butler auch seiner Singer-Songwriter Aspirationen nachgegeben und wandelt gekonnt auf den Spuren des Disco Ahnherren und beherzten Teilzeitbarden Arthur Russell.
radio fm4
- Hercules and Love Affair spielen am FM4 Geburtstagsfest
22. Jänner 2011, Arena Wien
Einlass ab 18 Uhr
ALle Infos dazu auf fm4.orf.at/ geburtstagsfest2011.
Aus dem New Yorker Empowerment Ensemble mit bacchantischer Neigung zum Clubgelage ist eine Formation geworden, die auch Introspekulationen zulässt. Butler thematisiert im Song Blue Boy, dessen Riff er bereits mit 14 geschrieben hat, eine Jugend zwischen Outing und Missbrauch, so wie sie für viele schwule Teenager gesellschaftliche Alltagsrealität ist. Doch die Farbe Blau, die an alle Ecken und Enden des Albums gepinselt wurde, versteht Butler im Sinne afroamerikanischer Musiktradition nicht nur als Ton der Verzweiflung sondern auch als Quelle der Kraft, die sich aus geteilter Erfahrung bündeln lässt.
Die neue Truppe, die hierfür ein vokales Regiment gebildet hat, wurde ebenso informell gefunden, wie Andy Butler DJ Marflow kennengelernt hat. Die Hauptstimmen Aerea Negrot und Shaun Wright sprachen Andy nach einem Hercules And Love Affair Konzert bzw während seiner Marketender-Tätigkeit für Antony („I sold his merch at his first gigs!“) an. Einzig Kele Okereke von Bloc Party dürfte den Link über die herkömmlichen Wege der professionellen Beziehungen gefunden haben.
Sie alle haben an den Songs
mitgeschrieben. Sie alle haben zum Zeitpunkt der Aufnahmen und Produktion von „Blue Songs“ an verschiedenen Orten gelebt. Und alles ist schlußendlich am Mischpult in Pulsingers Feedback Studio in Wien zusammenkommen. Für Butler war seine Zeit in der Stadt ein Himmel voller Geigen, also dem jungfräulichen Eindruck vieler Wienbesucher zwischen Naschmarkt, barocker Opulenz und Museumsquartier entsprechend. Ein angedachtes Musikstudium scheiterte an der Voraussetzung von Deutschkenntnissen. Zu einer Reunion mit Wien, Marflow und Patrick Pulsinger wird es dennoch kommen und zwar diesen Samstag beim FM4-Geburtstagsfest in der Wiener Arena. Man darf auf die Live-Umsetzung von "Blue Songs" gespannt sein. Das neue Album kennt mit dem platt gutmenschelnden Sterling Void Cover "It’s Alright" am Ende nur einen Durchhänger. Man kann halt nicht alles haben. Wien soll ja bisweilen auch voller Hundstrümmerl und Mieselsucht sein.