Erstellt am: 19. 1. 2011 - 17:47 Uhr
Journal 2011. Eintrag 16.
Das Jahr 2011 bietet wieder ein Journal, ein fast tägliches, wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009.
300 Einträge werden zusammenkommen, vielleicht auch mehr. Dazu komplettieren 60 oder 70 Einträge ins Fußball-Journal '11 die diesjährige Blumenau-Show im Netz.
Meist wird es hier Geschichten/Analysen geben, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo gefunden habe; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit der Frage, ob es tatsächlich die Wikileaks-Enthüllungen und die digitalen Kommunikations-Medien waren, die Tunesien die in ihrer Dynamik doch überraschende Jasmin-Revolution beschert haben; und ob diese Entwichlung etwas Exemplarisches aufweist.
Natürlich ist der Kampf, der erst vor Wochenfrist ins globale Bewusstsein kam, noch nicht beendet: die alte Garde, die Reste des Ben Ali-Regimes versuchen soviel von autoritärem Gestus zu retten wie nur möglich.
Trotzdem: eine kleptokratische Mafia-Herrschaft der ersten Familie (der von Ben Alis Frau, den Trabelsis) zu zerschlagen, den diktatorisch agierenden Staatschef außer Landes zu treiben - das ist eine Revolution.
Europa ist sich aktuell nicht sicher, ob es von einer Revolution der Bürger, einer Revolte der Jungen oder dem Umsturz durch die neuen Kommunikationstechniken sprechen soll.
Tatsache ist, dass der Online-Widerstand einen gewichtigen Beitrag geleistet hat - das belegt nicht nur der ostentative Staatssekretär-Posten für einen Ex-Piraten sondern auch die Bedeutung von Social Networks bei der Aktions-Kanalisation und letztlich der Organisation der Proteste.
![© die zeit facebook-profil mit tunesischem flaggen-revolutions-symbol](../../v2static/storyimages/site/fm4/2011013/tunisia_body_small.jpg)
die zeit
Dazu kamen, global unbemerkt, aber lokal von großer Bedeutung, die Wikileaks-Cables, die einer interessierten Öffentlichkeit das, was sie unter der Hand bereits wusste, bestätigte; aus der Sicht des US-Botschafters, und auf das Drastischste.
Tunileaks, die blutige Flagge und Slim Amamou
Das ist im übrigen die Wirkung, die ich hier im Journal am 4.1. am Beispiel der burlgarischen Mafia beschrieben hatte: "... erst eine globale Aufmerksamkeit kann hier seriösen Druck machen; und wenn es sich nur darum handelt, dass nun jeder Bescheid weiß und die entsprechenden Ergebnisse sortieren kann. Das sind Ergebnisse, die die lokalen Klenks niemals hätten erzielen können."
Diese Entwicklung war zum Jahreswechsel in Tunesien bereits in vollem Gange: Hacker wie die Anonymous lancierten Cyber-Attacken undTunileaks sortierte haarklein und machte zugänglich; was die großteils gleichgeschaltete Presse selbstverständlich verschwieg und die Machthaber selbstverständlich bekämpften - mit Mitteln der Zensur und des Terrors; untauglichen allemal.
Und weil wir einordnen können, was allzu übertrieben aufgeregte Zurückweisung bedeutet, ist die hektische Feststellung der US-Regierung, dass keineswegs die Cables, sondern der aufgestaute Ärger "the people" zum Aufstand trieb, dann doppelt putzig. Als ob sich die amerikanische Außenpolitik allzu oft einen Dreck darum geschert hätte, was der Wille "of the people" wäre.
- Einschub: der Vergleich mit heimischen Zuständen ist natürlich unzulässig. Aber in einer strukturell korrupten Medienlandschaft wie der unseren finden sich einige dieser grundsätzlichen Mechanismen wieder. Unter anderem das Eiferertum im ideologischen Graben-Kampf gegen die Leaks, die Wikis, die Blogs und die Selbstorganisation in den Networks, der sich - da ist Österreich stockdemokratisch - hauptsächlich in schnödem Gekoffere erschöpft.
Hin und wieder treten dem Stimmen gegenüber, die auf die diesen technologien geschuldete gestärkte Literarität hinweisen.
Das Medienlabor Tunesien - ein Glücksfall?
Was mich wieder zu Tunesien und der Frage, ob diese geistige Bewaffnung, ob die hohe Rate der Nutzer neuer Kommunikationstechniken sowas wie einen automatischen Freifahrtschein aus den autoritären Strukturen etwa der (gesamten) arabischen Welt bedeuten kann.
Und das ist, denke ich, aktuell die zentrale Frage: können Wikileaks&Twitter&Facebook&Co Demokratie schaffen, wo bis dato autoritäre Regimes herrschen?
Tunesien ist zwar seit den 80ern durch Korruption, Nepotismus und De-Facto-Diktatur zermürbt (wozu aktuell auch noch eine wirtschaftliche Krise, die den Jungen die Zukunft zu rauben drohte, kam) - Tunesien ist aber trotzdem rein strukturell ein Glücksfall: ohne ethnische Troubles, religiös moderat (es gibt keinen radikalen Islamismus) sprachlich homogen, durchaus literat, mit einem französischsprechenden Bürgertum, höchst Tourismus-affin und der EU zugewandt.
In welchem arabischen oder afrikanischen (oder auch asiatischem) Land, in welcher anderen Diktatur wären diese Bedingungen in dieser Form gegeben?
Und: hatte man nicht auch angenommen, dass der grüne Twitter-Widerstand im Vorjahr den Iran befreien würde?
L'Action Tunisienne Nouvelle
Andererseits: auch Langzeit-Präsident Habib Bourguiba hat sich und seine nationale Befreiungs-Politik dem Einsatz von Medien zu verdanken: seine Zeitung "L’Action Tunisienne" war der Nukleus der Befreiung von der französischen Kolonial-Herrschaft.
Und natürlich organisiert sich eine politisch bewusstlose und handlungsarme Gesellschaft gerne im Eskapismus der Unterhaltungs-Industrie (wie es ja auch im vom Telekom-Markt zu 100% durchsetzten Dauerversuchs-Markt Österreich der Fall ist) - die vergleichsweise hohe Durchdringung machte Tunesien zu einer idealen Laborratte.
Spricht also alles dann doch eher deutlich gegen die offizielle Linie der Blogosphere, die von Wired ausgegeben wurde? Kann sein, muss nicht sein. Die wirklich guten unter den profilierten Analysten geben es aktuell nämlich zu: dass sie, obwohl sie über all das Wissen, das wir alle jetzt, im Nachhinein haben, bereits im Vorhinein verfügt hatten, niemals gedacht hätten, dass die Revolte tatsächlich ein Erfolg werden könnte. Unter allen arabischen Ländern, sagte dieser Tage eine Expertin im französischen Fernsehen tv5, hatte sie Tunesien an der letzten Stelle in diesem Ranking.
Heute ab 23 Uhr: ein Club 2 zum Thema Tunesien und die Folgen.
Unverhofft kommt öfter. Und wenn, dann mit druckvoller Hilfe der neuen Kommunikationstechniken - gegen die es, außer roher Gewalt, noch kein Mittel gibt. Etwas, was man vielleicht auch der ungarischen Regierung, die sich medientechnisch die Fußstapfen von Ben Alis Unterdrückungspolitik aktuell gerade sehr genau ansieht zur Kenntnis bringen sollte.